Seit einem Jahr ist ein Satz in der Welt, der mit allen Zweifeln an der harmonischen Koexistenz zweier Päpste im Vatikan aufräumen sollte. „Ja“, sagte der emeritierte Papst Benedikt XVI. in seinem im September 2016 veröffentlichten Interview-Buch „Letzte Gespräche“ auf die Frage, ob er mit der bisherigen Amtszeit von Papst Franziskus zufrieden sei. „Eine neue Frische in der Kirche, eine neue Fröhlichkeit, ein neues Charisma, das die Menschen anspricht, das ist schon etwas Schönes“, schwärmte der Emeritus über Franziskus. Dass ein Papst über das Wirken seines Nachfolgers spricht, das gab es bis dahin nicht. Der Satz war gewiss aufrichtig, sparte aber jedes Urteil über die Substanz des Pontifikats aus. Es passt kein Blatt zwischen sie, so lautet die offizielle Version vom Zusammenleben der beiden weiß gekleideten Männer im Vatikan. Die Wirklichkeit stellt sich anders dar. Das Narrativ von der Harmonie zwischen Benedikt XVI. und Franziskus ist eines der größeren, derzeit im Umlauf befindlichen Märchen. Der persönliche Umgang der beiden ist davon ausgenommen. Man tauscht Freundlichkeiten aus, Franziskus hat seinen Vorgänger als Großvater im eigenen Haus verniedlicht. Der im direkten Umgang unkomplizierte Jorge Bergoglio versteht sich
menschlich gut mit dem feinsinnigen und zurückhaltenden Bajuwaren aus Marktl am Inn. Dieser taucht zu offiziellen Anlässen nur auf, wenn ihm der Amtsinhaber zuvor grünes Licht gegeben hat. Auch die Veröffentlichung des Interview-Buchs ließ sich Benedikt von Franziskus genehmigen. Artig nimmt der 90-jährige Joseph Ratzinger als Zeichen der Unterwerfung seinen weißen Zucchetto ab und beugt sein Haupt, wenn er dem zehn Jahre jüngeren Amtsinhaber begegnet. Alle Spekulationen, sein Rücktritt vor viereinhalb Jahren habe keine Gültigkeit, hat Benedikt XVI. glaubhaft zurück gewiesen. Und doch haben sich in den vergangenen Monaten Störmeldungen angehäuft, die die angespannte Lage in der katholischen Kirche zusätzlich belasten. Der letzte Anlass zur Aufregung war das Grußwort, das Benedikt XVI. anlässlich des Requiems für Joachim Kardinal Meisner Mitte Juli im Kölner Dom verfasst hatte. Sein Privatsekretär Erzbischof Georg Gänswein trug den Text teilweise unter Tränen vor. Besondere Aufmerksamkeit rief eine Passage hervor, in…