Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.10.2017 - Die antisemitischen Aktionen der Ultras von Lazio Rom sind bekannt. Diesmal spielt auch der Vereinspräsident eine unrühmliche Rolle.

Auf Geheiß des italienischen Fußballverbandes liefen bei den Spielen der Serie A am Mittwochabend Mannschaftskapitäne und Schiedsrichter mit Literatur in der Hand auf den Platz. Manche hielten Primo Levis Shoah-Roman „Ist das ein Mensch?“ in Händen, andere das Tagebuch der Anne Frank, um die die jüngste Affäre im italienischen Fußball kreist. Einige der antisemitischen Aufkleber, die Ultras von Lazio Rom am vergangenen Sonntag im römischen Olympiastadion angebracht hatten, zeigten das 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen ums Leben gekommene Mädchen im AS-Rom-Trikot. Der Grund dieser absonderlichen Provokation: 72 Jahre nach Ende des Holocausts gilt jüdische Identität bei Fußballfans in Rom als Beleidigung. Um dieser Geschichtsvergessenheit entgegen zu treten, mussten die Kapitäne am Mittwochabend in den Stadien einen Ausschnitt aus dem Tagebuch der Frankfurter Jüdin vorlesen, die sich mit ihrer Familie ab 1942 bis zur Deportation in einem Amsterdamer Hinterhaus versteckte. Die Spieler von Lazio Rom waren angewiesen worden, sich zum Aufwärmen vor dem Spiel beim FC Bologna ein T-Shirt mit dem Foto des Mädchens überzustreifen. Eine Gedenkminute für die Opfer der Shoah wurde

abgehalten, auch vor den Partien in unteren Spielklassen. Wie weit der Weg für Italiens Fußball aber noch ist, zeigt etwa die Reaktion der Ultras von Ascoli Calcio in der Region Marken. Beim Zweitligaspiel ihrer Mannschaft am Dienstagabend ignorierten die als rechtsradikal bekannten Anhänger die Holocaust-Gendenkminute ganz bewusst. Aus Protest blieben auch die meisten Lazio-Ultras dem Auswärtsspiel beim FC Bologna fern. Im italienischen Innenministerium weiß man: 85 von 382 Ultragruppierungen in Italien sind rechtsextrem und das nicht erst sei gestern. Die Entrüstung der Branche hat deshalb einen faden Beigeschmack. In einem fragwürdigen Auftritt legte Claudio Lotito, Präsident von Lazio Rom, bereits am Dienstag einen Blumenkranz vor einer Holocaust-Gedenktafel an der römischen Synagoge nieder, als Reaktion auf die Aufkleberaktion seiner Tifosi. Die beiden brasilianischen Fußballprofis Felipe Anderson und Wallace Fortuna dos Santos mussten Spalier stehen, während Lotito sich vor der Presse zum Vorkämpfer gegen Xenophobie, Rassismus und Antisemitismus aufschwang. Lotito, so…

Badische Zeitung, 9.9.2017 - Lorenza und Paola Mazzetti sind die Adoptivnichten Albert Einsteins. Die 90-jährigen Schwestern glauben, dass deutsche Soldaten ihre Adoptivfamilie aus Rache auslöschten.

Lorenza und Paola Mazzetti. Foto: Produktion

Lorenza und Paola Mazzetti. Foto: Produktion

Die Zwillingsschwestern kauerten auf dem Boden im Schlafzimmer, als sie drei Salven aus dem Maschinengewehr hörten. Die erste galt ihrer Tante und Adoptivmutter Nina. Die zweite ihrer 27-jährigen Cousine Luce, Ninas Tochter. Als Letztes erschossen die Deutschen Luces Schwester Annamaria, gennant Cicì. Sie war 18 Jahre alt. Ein junger Soldat, auch er etwa gleichen Alters, sollte die beiden Mädchen im Schlafzimmer im Obergeschoss der Villa mit entsichertem Gewehr bewachen. „Er begann am ganzen Körper zu zittern. Sein Gesicht war voller Tränen“, erzählt Paola Mazzetti von dem Moment, als die Gewehrsalven das Haus erschütterten. Erst da verstanden die Zwillinge, dass soeben ihre Adoptivfamilie ausgelöscht worden war. Paola und Lorenza Mazzetti sind heute 90 Jahre alt. Den Sommer haben die alten Damen in ihrem Domizil am Bolsena-See bei Viterbo verbracht, 90 Kilometer nördlich ihrer Heimatstadt Rom. An das Massaker in der toskanischen Villa Il Focardo erinnern sie sich in jedem Detail. Es war der 3. August 1944, die Mädchen waren gerade 17 Jahre alt geworden, auch damals war es heiß.

Sie erinnern sich an den Suchtrupp, der plötzlich anrückte, an den blonden Kommandanten mit Brille, an den inszenierten Prozess, der mit dem Tod der drei Frauen endete. Auch, warum sie selbst im Gegensatz zu ihrer Adoptivfamilie mit dem Leben davon kamen, ist den Schwestern klar: Ihr Nachname ist Mazzetti, nicht Einstein. Lorenza stockt, schluckt, bricht Sätze mittendrin ab, wenn sie von damals erzählt. „Ich leide noch heute an den Folgen“, sagt sie. Es ist eine Familientragödie im Zeichen der damaligen Weltpolitik. Lorenza und Paola sind die Adoptivnichten Albert Einsteins, des großen Physikers und Nobelpreisträgers. Einsteins in Italien lebender jüdischer Cousin und enger Freund Robert und seine Frau Nina adoptierten die Schwestern 1934. Ein Jahr zuvor war der berühmte Wissenschaftler in die USA emigriert und profilierte sich dort auch als lautstarker Kritiker des Nazi-Regimes. Seine in Italien verbliebene Familie musste für ihn büßen. Auf Hitlers Befehl. Davon sind die Zwillingsschwestern überzeugt. Ein Martyrium fortwährender…

Generalanzeiger, 6.9.2017 - Für Elisa Vittori und Livia Micozzi brach mit den Erdbeben in Mittelitalien vor einem Jahr eine Welt zusammen. Die Überlebenden von Accumoli sind nun an der Adria untergebracht.

Livia Micozzi und Elisa Vittori vor ihrem neuen Zuhause. Foto: Max Intrisano

Livia Micozzi und Elisa Vittori vor ihrem neuen Zuhause. Foto: Max Intrisano

Darf man Musik machen, wenn gerade die Welt untergegangen ist? Nein, dachte Elisa Vittori zunächst. In der provisorischen Zeltstadt von Accumoli wohnten Leute, die wenige Tage zuvor ihre Familienangehörigen beim Erdbeben verloren hatten und deshalb in tiefer Trauer waren. 299 Menschen starben im August 2016 in Mittelitalien, ganze Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht. Es galt also, mit Stille Respekt zu zollen, den Opfern von Accumoli und ihren Angehörigen. Die Blaskapelle sollte schweigen. Wäre es zudem nicht dem toten Schlagzeuger Andrea und seinen Verwandten gegenüber respektlos gewesen, einfach ohne ihn weiterzumachen? In der Nacht des 24. August 2016, als der Boden unter Accumoli bebte, erschlug der gerade erst renovierte Kirchturm den Schlagzeuger Andrea, seine Frau und die beiden kleinen Söhne im Schlaf. „Wir dachten, es ist besser zu warten“, sagt Elisa. Sie spielt Klarinette und fing schon als Zehnjährige in der Blaskapelle an. Heute ist sie 18 Jahre alt. An jenem Abend, nur zwei Wochen nach der Apokalypse, als es um Tod, um Pietät und um die Frage

ging, wie viel Leben und Neuanfang möglich sind, befand sich auch Giuseppe Scurci im Zelt. Der Psychologe und seine Kollegen waren am Tag nach der Katastrophe aus Rom nach Accumoli gekommen, um zu helfen. Als er mitbekam, dass Elisa und ihre Musikerkollegen unsicher waren, ob an diesem letzten Abend im Großraumzelt musiziert werden sollte oder nicht, da mischte er sich ein. „Musizieren kann helfen, euch und den anderen“, versicherte er ihnen. Eine Blaskapelle als Symbol des Lebens Die Musiker dachten nach und diskutierten. Als die Menschen im Zelt dann auch noch zu drängeln begannen, dass ein bisschen Spaß vielleicht allen ganz gut tun würde, holten Elisa und die anderen Musiker der Blaskapelle ihre Instrumente hervor. Sie improvisierten, es klang zunächst ein bisschen schräg, aber dann tanzten die Leute sogar. „Das war auch für uns das Zeichen: Es ist nicht vorbei“, erzählt Elisa. „Eine Blaskapelle, die spielt, ist ein Symbol für ein Dorf, das lebt“,…

Süddeutsche Zeitung, 24.8.2017 - 1944 sucht die Wehrmacht in der Toskana nach Robert Einstein, einem Cousin und Freund von Albert Einstein. Die Deutschen ermorden Frau und Töchter. Nur die Nichten Lorenza und Paola überleben. Ein Gespräch

Paola und Lorenza Mazzetti vor der Villa Il Focardo. Foto: Film-Produktion

Paola und Lorenza Mazzetti vor der Villa Il Focardo. Foto: Film-Produktion

Am 3. August 1944 bricht für Lorenza und Paola Mazzetti eine Welt zusammen. In einer Villa in der Toskana ermorden deutsche Soldaten die Adoptivfamilie der Zwillingsschwestern. War das eigentliche Ziel dieses Massakers der in die USA emigrierte Physiknobelpreisträger Albert Einstein? Die heute 90-jährigen Schwestern sind die letzten lebenden Zeugen. Am 24. August kommt der Film "Einsteins Nichten" von Regisseur Friedemann Fromm in die deutschen Kinos. Wir haben die Protagonistinnen vorab gesprochen. SZ: Das Drama Ihres Lebens beginnt mit dem Tod der Mutter, kurz nach der Geburt im Jahr 1927. Lorenza Mazzetti: Wir haben unsere Mutter nie kennengelernt. Die Ärzte dachten, sie hätte einen Tumor im Bauch. Niemand ahnte, dass sie Zwillinge auf die Welt bringen sollte. Paola Mazzetti: Unser Vater war verzweifelt angesichts ihres Todes. Wir wuchsen zunächst mit einem Kindermädchen auf. Wie kamen Sie zur Familie Einstein? Lorenza: Die Schwester unseres Vaters, Cesarina Mazzetti, genannt Nina, machte ihrem Mann den Vorschlag, uns zu adoptieren. Sie sagte: Robert, wir haben schon zwei Töchter, aber da sind meine beiden Nichten, die keine Mutter

mehr haben, der Vater schafft es nicht. Lass uns die beiden nehmen und sie aufziehen! Robert Einstein war der Cousin und ein enger Vertrauter von Albert Einstein. Beide wuchsen zunächst in München und nach dem Umzug der elterlichen Elektrofirma nach Pavia in Italien auf. Welche Rolle spielte Albert Einstein in Ihrer neuen Familie? Paola: Wir verdanken den Einsteins unheimlich viel. Es herrschte ein Geist von großer Freiheit. Das waren keine Snobs oder Menschen, die sich verstellten. Es herrschte so etwas wie eine Hippie-Mentalität. Wir lernten, frei zu denken. Lorenza: Die Familie Einstein verkörperte eine ganz spezielle Mentalität, die auch wir aufgesogen haben. Die Schwester von Robert Einstein war Physikprofessorin in Zürich. Auch Alberts Schwester Maja, die bei Florenz wohnte, und die wir oft besuchten, verkörperte einen besonderen Geist. Viele Künstler waren bei ihr zu Besuch, stets wurde Musik gemacht. Wie haben Sie Albert Einstein persönlich erlebt? Lorenza: Wir waren noch sehr jung,…