Wiener Zeitung, 23.September 2022 - Gibt es einen Grund für die Rückkehr der Postfaschisten an die Macht in Italien? Die Traumata, die wir alle am liebsten vergessen und nicht mehr spüren wollen, sind der Schlüssel zu unserer Gegenwart.

Italienische Partisanen.

Italienische Partisanen.

An diesem Wochenende wird gewählt in Italien - und Benito Mussolini ist wieder in aller Munde. In den italienischen Buchhandlungen liegen Bücher in den Vitrinen, die den duce und den italienischen Faschismus zum Thema haben. „Der lange Schatten des Faschismus“, lautet der Titel eines der meist verkauften Bücher dieser Tage, Untertitel: „Warum Italien immer noch an Mussolini hängt“ Hört das denn nie auf? Ende Oktober jährt sich die faschistische Machtergreifung in Italien zum 100. mal. Mussolinis Marsch auf Rom im Jahr 1922 war der Startschuss des sogenannten ventennio, der mehr als 20 Jahre währenden faschistischen Herrschaft in Italien. Ziemlich genau 100 Jahre später dürfte eine gewisse Giorgia Meloni das Mandat zur Bildung der neuen italienischen Regierung bekommen. Meloni führt die postfaschistische Partei Brüder Italiens an, die stärkste Kraft bei der Wahl werden wird. Sie war als Jugendliche und junge Frau eine Verehrerin Mussolinis und mag den duce auch heute noch, auch wenn sie das so nicht mehr sagen kann. Wie ist das möglich? Manchmal heißt es, Geschichte wiederhole sich. Sie wiederholt sich nicht. Und eine

demokratisch gewählte Regierung Meloni hat nichts mit dem brutalen faschistischen Regime ab 1922 zu tun. Aber Geschichte, wenn wir uns ihre Folgen nicht klar machen und in einem inneren Prozess betrachten, präsentiert sich in Variationen wieder. Das hat mit den persönlichen und kollektiven Traumata zu tun, die gesellschaftliche und persönliche Katastrophen mit sich bringen. Die Traumata, die wir alle am liebsten vergessen und vor allem nicht mehr spüren wollen, sind der Schlüssel zu unserer Gegenwart. Die Traumata als Schlüssel zur Gegenwart Die herkömmliche Methode im Umgang mit diesen Traumata ist, sie zu ignorieren. Das 20. Jahrhundert war das blutigste Jahrhundert aller Zeiten. Über 100 Millionen Menschen starben alleine in den Kriegen. Wir im Westen meinen oft, Zeugen eines unwiederbringlichen Fortschritts zu sein. Menschlich betrachtet fällt die Bilanz – bei allen positiven Ausnahmen und Beispielen – verheerend aus. Unrecht und Gewalt erzeugen Traumata. Die kollektiven Traumata sitzen ebenso tief wie die…

Salzburger Nachrichten, 16. September 2022 - Giorgia Meloni will erste Ministerpräsidentin Italiens werden. Dazu gibt sie sich mal milde, mal radikal. Sie hat sich vom Faschismus distanziert, der spielt in ihrer Partei aber nach wie vor eine wichtige Rolle.

Giorgia Meloni.

Giorgia Meloni.

Giorgia Meloni sollte jetzt eigentlich schon da sein. Etwa 50 Menschen warten auf der Piazza Galvani in Bologna auf sie, vergeblich. Alles ist rot hier, die Fassaden, die Jalousien und die Herzen vieler Bologneser. Bologna, la rossa, die Rote, Hauptstadt der Resistenza gegen den Nazifaschismus, ist kein einfaches Pflaster für die extreme Rechte. Ein paar Funktionäre, alle freundlich, gut gelaunt, elegant in Anzug oder Hemd, informieren die Herumstehenden. „Giorgia kommt heute leider nicht“, sagt ein Parteigänger. Sie habe kurzfristig nach Rom ins Parlament gemusst. Kleine Notlüge, die die Geschichte einer verantwortungsvollen, starken Frau erzählen soll. Auch drei Damen sind auf die Piazza Galvani gekommen und tauschen sich aus. „Bologna muss sich verändern“, sagt die Eine. Da fährt ein strubbeliger junger Mann im Fahrrad vorbei und beschimpft die Sympathisanten Melonis als „Arschlöcher“. „Siehst du?“, meint die andere und schüttelt den Kopf. Die Dritte ist so begeistert von Meloni, dass für sie das Fehlen der Parteichefin der Brüder Italiens kaum ins Gewicht fällt. „Sie ist stark, eine Frau, absolut kohärent. Hoffentlich

bringt sie Italien wieder in Ordnung“, sagt sie. Um nichts Weniger geht es bei der Parlamentswahl am 25. September. Das Land in Ordnung bringen. Obwohl das vielen Beobachtern zufolge der amtierende Ministerpräsident Mario Draghi die vergangenen 17 Monate auf sinnvolle Weise versucht hatte. Doch die Wut im Volk ist groß angesichts der vielen Krisen und sie wird immer größer. Die Ambitionen vor allem der Rechten sind es ebenfalls. Die rechtsradikalen „Fratelli d'Italia“ (Brüder Italiens) stehen in den Umfragen prächtig da, laut Umfragen können sie mit rund 25 Prozent rechnen, Wahlsieger werden und mit ihren Bündnispartnern Lega und Silvio Berlusconis Forza Italia die Regierung bilden. Es wird eine Wahl der Wut sein und mit Wut kennt sich Giorgia Meloni aus. Die Flamme der Neofaschisten Am Vortag im Hafen von Genua. Etwa 300 Anhänger haben sich hier unter einem Zelt versammelt und schwingen Fahnen der Partei, die eine Flamme als Referenz an die 1946…

FAZ, 4. Juni 2022 - Der italienische Fußball erlebt seine zweite Stunde null innerhalb von vier Jahren.

Italien, die Fußballnationalmannschaft, auch squadra azzurra genannt - da klingen Fußballliebhabern allein schon angesichts der Geschichte die Ohren. Viermal Weltmeister war Italien, vor einem Jahr sogar Europameister. Ein Jahr später, im Juni des Jahres 2022, muss man sich an ganz neue Töne gewöhnen, die der Verteidiger Giorgio Chiellini am Mittwochnacht für seine Landsleute so zusammengefasst hat: "Das wird jetzt eine ganz schwierige Zeit, bitte steht der Nationalelf bei!" Chiellini war bis Mittwoch Abend Kapitän der Azzurri, nach seinem 117. Länderspiel beendete der 37-Jährige erwartungsgemäß seine Karriere in der Nationalmannschaft. Der Verteidiger war bislang bei Juventus Turin unter Vertrag, jetzt wird er noch für eine Ehrenrunde in die US-Liga zum FC Los Angeles wechseln. Seinen Abschied hatte sich Chiellini anders vorgestellt. Jedenfalls nicht mit einer Auswechslung zur Halbzeit und einer "Demütigung", wie die italienischen Gazetten übereinstimmend urteilten. Europameister Italien hatte im Londoner Wembleystadion nicht nur die "Finalissima" gegen Südamerikameister Argentinien mit 0:3 verloren, sondern sich dabei auch noch blamiert. Wenn das Team von Trainer Roberto Mancini nun an diesem Samstag in

Bologna die deutsche Nationalmannschaft am ersten Spieltag der Nations League empfängt, kann kaum von einem Duell auf Augenhöhe die Rede sein. "Wir werden ihre Sparringspartner auf dem Weg zur Weltmeisterschaft sein", schrieb resigniert "La Repubblica". Am Samstag in einer Woche muss Italien gegen England antreten, auch hier schwant den heimischen Beobachtern Übles. Das italienische Selbstbewusstsein, insgesamt und besonders im Fußball eigentlich unerschütterlich, liegt ein Jahr nach dem EM-Triumph in Trümmern. Der Niedergang begann wohl schon in der Stunde des Triumphes. Es war ja eine große Überraschung, dass es Mancini gelang, ein so schlagfertiges, rasant und fußballerisch eher unitalienisch auftretendes Team zu formen, das dann auch noch den EM-Titel holte. Schon gegen Ende des Turniers stockte die Angriffslust der Italiener, der wichtigste taktische Kniff mit dem standardmäßig auf die Linie der Angreifer aufgerückten Außenverteidiger Leonardo Spinazzola funktionierte seit dessen Achillessehnenriss im Viertelfinale gegen Belgien nicht mehr. Im Nachhinein erinnert Italiens EM-Sieg…

Augsburger Allgemeine, 14.3.2022 - Der russische Präsident stammt aus einer traumatisierten Familie. Ist das der tiefere Grund für den Ukraine-Krieg? 

Der wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages hat 2017 einen Aufsatz veröffentlicht zum Thema der transgenerationalen Weitergabe von Traumata. Es geht dabei um das vor allem bei Holocaust-Überlebenden beobachtete Phänomen, dass nicht verarbeitete Traumata Wirkung in folgenden Generationen entfalten können. Die Kinder und Kindeskinder der Betroffenen sind also nicht frei von den Erlebnissen ihrer Vorfahren, ihr Handeln kann teilweise oder gänzlich bestimmt sein von den Katastrophen, die die Vorfahren erleben mussten. Wie sollte das auch anders sein? Kinder traumatisierter Eltern wachsen mit den Folgen der traumatisierenden Ereignisse auf, sie saugen Harmonie ebenso auf wie die Atmosphäre von Leid und Zerstörung. Auch Enkel und Urenkel können auf einer unbewussten Ebene betroffen sein, weil von den Vor-Generationen erlebte und nicht verarbeitete Ereignisse auch bei ihnen Wirkung entfalten. Man mag als simples Beispiel nur an einen stets traurigen oder depressiven Elternteil und die Auswirkungen jenes Gemütszustandes auf das Leben der Kinder bedenken. Was hat das mit dem Krieg in der Ukraine und dem Mann zu tun, der diesen Krieg entfacht hat? Der russische

Präsident Wladimir Putin, geboren am 7. Oktober 1952, ist, wie die viele Menschen seiner Generation, ein Kind traumatisierter Eltern. Gerne wird auf Putins gewaltfreudige Vergangenheit in den Hinterhöfen von Sankt Petersburg hingewiesen, die Rede ist vom „Hänfling“, der sich Respekt verschaffen wollte und es später zu Bravour in der Kampfsportart Judo brachte. Diese Sozialisierung ist allerdings erst ein Resultat aus Herkunft, Charakter und sozialen Umständen. Aufschlussreicher ist Putins Familiengeschichte, sie ist geprägt von tragischen Ereignissen. Sein Vater war sowjetischer Soldat im Zweiten Weltkrieg. „Er hatte sechs Brüder, von denen fünf gefallen sind“, schrieb Putin 2015 in einem Essay für die russische Zeitschrift Russkij Pioner. Sollten diese Angaben korrekt sein, woran kein Grund zu zweifeln besteht, hat Wladimir Putin fünf seiner Onkel nie kennen gelernt, weil sie im Zweiten Weltkrieg ums Leben kamen. Putins Vater, Wladimir Spiridonowitsch Putin, starb 1999. Der Tod seiner fünf Brüder hat sein Leben zweifellos geprägt. Dies dürfte…