Wie soll man ihn nun nennen, Tizian oder gar Michelangelo? Gianni Agnelli, der Turiner Großindustrielle, ist vor über 20 Jahren verstorben und kann den Ballkünstlern von Juventus Turin keinen Spitznamen mehr geben. Der große Roberto Baggio war für den Juventus-Ehrenpräsidenten schlicht „Raffael“. Alessandro Del Piero wurde vom legendären „avvocato“ „Pinturicchio“ getauft. Solche Vergleiche sind für den jungen Kenan Yildiz ziemlich viel Gewicht auf den erst 19 Jahre alten Schultern. Aber wenn es eine große Vergangenheit gab, die von einer grauen Gegenwart abgelöst wird, und dann ein wenig Hoffnung aufflammt, kommt es zu solchen Projektionen. Es ist nun einmal so: Kenan Yildiz aus Regensburg hat die Phantasien der Tifosi und den Glauben an eine goldene Zukunft von Juventus Turin beflügelt.
Der italienische Rekordmeister tritt an diesem Mittwoch bei RB Leipzig in der Champions League an. Jenes Turnier wurde von den Turinern zuletzt 1996 gewonnen, mit Del Piero im Team. Seither hechelt man im Piemont diesem Titel hinterher, kam seither sogar noch fünfmal ins Finale (1997, 1998, 2003, 2015, 2017), zog aber immer den Kürzeren. Wenn also ein Spieler aus der gegenwärtigen Mannschaft einen fußballerischen Akt aufführt, der wie ein Ticket in eine glorreiche Zukunft wirkt, dann gibt es auch im sonst eher unterkühlten Turin kein Halten mehr.
Champions-League-Saison 2024/25, erster Spieltag, Juventus Turin gegen die PSV Eindhoven. Es läuft die 21. Spielminute. Yildiz, gebürtiger Oberpfälzer und türkischer Nationalspieler, bekommt im linken Halbfeld den Ball. Mit fünf Berührungen im Sprint bringt der Juventus-Spieler ihn in den Strafraum, zirkelt ihn aus dem Fußgelenk in den rechten oberen Winkel – ein Traumtor. Die Älteren im Juventus Stadium haben so etwas doch schon einmal gesehen, fast identisch: Juventus Turin spielte am 13. November 1995 im Dortmunder Westfalenstadion. Auch damals hatte der Spieler mit der Nummer zehn den Ball und beförderte ihn, in der Torvorbereitung etwas umständlicher als Yildiz, auf atemraubende Weise in den Winkel.
Jener Treffer des damals erst 20 Jahre alten Pinturicchio alias Alessandro Del Piero war so etwas wie der Startschuss ins Glück und der Beginn einer großen Karriere. Acht Monate später sicherte sich Juventus die europäische Fußballkrone, seither aber „nur“ noch 13 von insgesamt 36 italienischen Meistertiteln. Dass er heute mit seinem Idol Del Piero verglichen wird, hat Yildiz auch selbst zu verantworten. Er sagt: „Das Trikot mit der Nummer zehn ist alles für mich.“ Nach seinem Treffer streckte er beim Jubel die Zunge heraus, wie es sein Idol Del Piero tat. Yildiz, der die Jugendabteilungen von Jahn Regensburg und des FC Bayern durchlief und 2022 nach Turin wechselte, löste Del Piero mit seinem Treffer als jüngster Torschütze des Vereins in der Champions League ab. „Yildiz ist nicht Del Piero, kann aber etwas sehr Ähnliches werden“, schrieb das Turiner Fußball-Organ „Tuttosport“. Das soll zugleich bedeuten: Auch Juventus kann wieder an die damalige Erfolgsära anknüpfen.
Die Mannschaft ist im Umbau. 2022 trat das gesamte Präsidium um den Enkel des „avvocato“, Präsident Andrea Agnelli, und Vizepräsident Pavel Nedved zurück. Die Staatsanwaltschaft hatte Ermittlungen wegen Bilanzfälschung aufgenommen. Strafrechtliche Konsequenzen gab es nicht, Agnelli und Nedved wurden gesperrt. Nach Abzug von zehn Punkten landete Juventus in der Saison 2022/23 auf dem siebten Platz. Im vergangenen Jahr gelang der Sprung auf Rang drei, der zur Teilnahme an der Champions League berechtigte.
Macher der neuen Juventus-Ära soll Sportdirektor Cristiano Giuntoli werden, der zuvor beim SSC Neapel mit Transfers wie denen von Victor Osimhen und Chwitscha Kwarazchelia den dritten Meistertitel der Vereinsgeschichte möglich gemacht hatte. Jetzt muss er mit einem 200-Millionen-Minus in der jüngsten Juventus-Vereinsbilanz klarkommen und gleichzeitig die Mannschaft wettbewerbsfähig gestalten. Das scheint ihm gelungen zu sein. Juventus liegt in der Tabelle der Serie A nach sechs Spieltagen mit zwölf Punkten auf Platz zwei. Dreimal gewann die Mannschaft mit 3:0, dreimal spielte sie 0:0-Unentschieden. Das einzige Gegentor der Saison gab es beim 3:1-Sieg gegen Eindhoven. Dass es derzeit besonders schwierig scheint, einen Treffer gegen Juventus zu erzielen, ist in erster Linie das Verdienst des neuen Trainers Thiago Motta. Der frühere Spieler des FC Barcelona, von Inter Mailand und Paris Saint-Germain gilt als neuer Guru am italienischen Trainer-Himmel. Im vergangenen Jahr hatte er den FC Bologna in die Champions League gecoacht. Einen „Vorbestimmten“ nennt ihn nicht nur der Corriere della Sera. Mindestens zwei Prädestinierte haben nun also das Schicksal der „alten Dame“ in der Hand, Trainer Motta und Angreifer Yildiz. „Yildiz ist ein Spieler mit großen Qualitäten und Arbeitskultur“, sagt der Trainer. Den passenden Spitznamen dürfen sich andere ausdenken.