Macrons Neue?

Focus, 9. August 2024 - Die Beamtin Lucie Castets will Frankreichs Premierministerin werden. Präsident Macron hat andere Pläne.

Lucie Castets war 15 Jahre alt, als sie zum ersten Mal ein Interview gab. Die Zeitung „Ouest-France“ wollte wissen, wie es ist, als Ballmädchen bei Frankreichs wichtigstem Tennisturnier, den French Open in Paris, dabei zu sein. „Man muss super konzentriert sein. Ballmädchen zu sein, das ist überhaupt nicht leicht“, erklärte die Jugendliche aus Caen in der Normandie. „Es gibt präzise Regeln, die man perfekt beherrschen muss. Ein Fehler kann verheerend sein.“ Besonders wichtig sei es, sich an die Bedürfnisse gewisser Spieler anzupassen. Bei den damaligen French Open hießen die Stars Andre Agassi oder Serena Williams.

Auch jetzt, 22 Jahre später, steht Lucie Castets wieder einer Reihe eigenwilliger Spieler gegenüber. Allerdings sind es heute die Protagonisten der französischen Politik. Da ist etwa der Chef der Linksradikalen Manuel Bompard oder Sozialistenführer Olivier Faure, der wichtigste Akteur ist aber Staatspräsident Emmanuel Macron. Wieder sind Regeln zu beachten. Wieder darf Castets, inzwischen 37 Jahre alt und Finanzdirektorin der Stadt Paris, keinen Fehler machen – wenn sie denn französische Premierministerin werden will.

Nach der überraschend vom Staatspräsidenten angesetzten Parlamentswahl, aus dem das Wahlbündnis Nouveau Front populaire (NFP) aus Linksradikalen, Sozialisten, Grünen und Kommunisten als Sieger hervorging, stritten sich die Beteiligten der „Volksfront“ zwei Wochen lang. Dann, förmlich in letzter Minute, nominierten sie die völlig unbekannte Spitzenbeamtin Castets als Kandidatin für das Amt des Regierungschefs. „Lucie qui?“, hieß es in den Pariser Parteizentralen. Lucie wer? Die linksgerichtete Zeitung „L’Humanité“ schrieb von einem „Psychodrama“, dass sich da bei der Suche hinter den Kulissen abgespielt habe.

Macrons Spiel auf Zeit

In Frankreich ernennt der Staatspräsident den Regierungschef. Traditionell bekommt der Wahlsieger den Zuschlag. Aber im Sommer 2024 gelten eigene Regeln. Denn Staatspräsident Macron, der mit der Neuwahl bereits ein Hazardstück bot, spielt im Kampf um sein politisches Überleben nun auf Zeit. Die Olympischen Sommerspiele in Paris kommen ihm da gerade recht. „Unsere Verantwortung ist es, dass die Spiele gut ablaufen“, behauptete er in einer Ansprache eine Stunde nach Castets Nominierung durch die Volksfront. Die verfügt, ebenso wie Konservative und Rechtsradikale, nicht über die absolute Mehrheit der Mandate im Parlament.

Erst danach, Mitte August, werde er sich der Frage der Regierungsbildung widmen. Alles andere „würde Unordnung schaffen“, behauptete der Präsident. Dabei war es Macron selbst, der Frankreich nach dem Erfolg des rechtsradikalen Rassemblement National (RN) bei der Europa-Wahl Anfang Juni in eine institutionelle Krise gestürzt hatte, indem er die Nationalversammlung aufgelöst und Neuwahlen ausgerufen hatte. Erst gelang es dem Präsidenten, Marine Le Pen und die extreme Rechte zu stoppen. Jetzt bremst er die Linke aus.

Kampf gegen Geldwäsche

In diesem Vakuum versucht sich Lucie Castets zu beweisen. „Sie ist eine Frau, kommt aus der Zivilgesellschaft, ist links, seriös. Niemand hat das Gefühl, sich nicht in ihr wiederzufinden“, sagt Said Benmouffok, Berater der Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo. „Sie ist nicht die Bekannteste, deckt aber viele Themen ab.“ Castets ist eine Karrierebeamtin und Mutter eines Kindes. Auch sie hat für die Sozialistin Hidalgo gearbeitet, erst im Wahlkampf, dann als Beraterin.

Seit vergangenem Jahr leitet sie das Finanzressort der Stadt. Jetzt ist es vorbei mit der Ruhe am Schreibtisch, die Konkurrenz schießt plötzlich scharf. Ein Politiker des Rassemblement National unterstellte ihr, Frankreich in den Ruin treiben zu wollen, weil sie das auch mit Paris gemacht habe. Schließlich sei auch sie für den wachsenden Schuldenberg der Hauptstadt verantwortlich. Das Defizit stieg von 7,7 Milliarden Euro im Jahr 2022 auf 9,3 Milliarden im Jahr 2024.

Castets hat wie ein Großteil der Pariser Elite die französische Verwaltungshochschule und Kaderschmiede ENA durchlaufen. Anschließend arbeitete sie in der Generaldirektion des Finanzministeriums, später in der Antigeldwäsche-Einheit des Ministeriums. Parteipolitische Erfahrung hat die Überfliegerin allerdings kaum. Sie war Mitglied der Sozialisten zwischen 2008 und 2011, trat dann aber aus Unmut über Ex-Präsident François Hollande wieder aus. Bekannt ist Castets in der Szene als Mitgründerin eines Kollektivs, das öffentliche Dienstleistungen verbessern will und gegen den Einfluss von Beratungsfirmen wie McKinsey im Staatswesen kämpft. Derzeit kursiert der Ausschnitt eines TV-Auftritts aus dem Jahr 2022, in dem sie Stanislas Guerini, Macrons Minister für den öffentlichen Dienst, die Leviten liest, weil er für die Entlassung von 180 000 Staatsbeamten in den vergangenen zehn Jahren mitverantwortlich sei.

Castets kann zupackend sein, scharf, gleichzeitig elegant. „Nicht einmal beim Zähneputzen“ sei ihr der Gedanke gekommen, Premierministerin zu werden, behauptet sie. Ihre Nominierung sei „schwindelerregend“. „Aber ich könnte mich nicht mehr im Spiegel ansehen, wenn die Linke zerbricht, weil ich nein gesagt habe“, meint sie. Im Amt will Castets das Programm der Volksfront ohne Abstriche verwirklichen: Stopp des Verwaltungsabbaus, Einführung einer Vermögensteuer, Rückkehr zum Renteneinstiegsalter mit 62 Jahren. Erst vergangenes Jahr hat Emmanuel Macron seine Unterschrift unter eine Rentenreform gesetzt, die das Einstiegsalter auf 64 Jahre anhob. Auch deshalb scheut der Präsident davor zurück, Castets zu nominieren. Die Linke will von seiner Regierung verwirklichte Vorzeige-Projekte abwickeln. Wie aber soll das gehen ohne absolute Mehrheit in der Nationalversammlung? Die Volksfront verfügt nur über 182 Sitze, zur absoluten Mehrheit fehlen 107 Mandate.

Gesetz für Gesetz wolle sie nach Mehrheiten suchen, in einer Minderheitsregierung, erklärte Castets. „Wer ist zum Beispiel nicht für eine bessere Bezahlung von Nacht-Krankenschwestern?“, führte sie in einem ihrer ersten Interviews etwas blauäugig an. Castets sagt, sie wolle im Parlament mit allen zusammenarbeiten außer mit Le Pens Rechtsradikalen. „Mit ihnen niemals.“

Um bekannter zu werden, gibt die Newcomerin nun laufend Interviews und bereist die Republik. Aber Macrons Kalkül geht bisher auf: Das Land wirkt froh über die Stille seiner erratischen Politiker und ist durch Olympia bestens unterhalten. Entzückt genießen die meisten Landsleute gerade den über Frankreich niedergehenden Medaillen-Regen.

Castets hat es nicht nur mit den Vabanque-Spielern der französischen Politik zu tun, sondern auch mit mehreren „Herkulesaufgaben“, meint die Tageszeitung „Le Monde“. Erstens müsse sie die gesamte Linke glaubwürdig vertreten. Zweitens stehe sie vor der Herausforderung, ein ausgewogenes Regierungsteam aufzustellen. Und drittens müsse sie erst einmal die nötige Bekanntheit erlangen. Zu den drei Herausforderungen gesellen sich in Wahrheit noch ein paar mehr: etwa als Technokratin ohne Parteirückhalt eine streitlustige Linkskoalition zu bändigen und mit wechselnden Mehrheiten zu jonglieren. Nun geht es darum, den Zuschlag vom Staatspräsidenten zu bekommen, der bei Olympia öffentlich Frankreichs und die eigene Größe zelebriert, gleichzeitig aber in den Hinterzimmern an seinem nächsten politischen Coup bastelt.

Ein gewagter Pakt

Macrons letzte Hoffnung ist ein Bündnis aus seiner Partei Ensemble, den konservativen Republikanern sowie moderaten Sozialdemokraten und Grünen. Eine Koalitionsregierung, wie sie in Frankreich keine Tradition hat. „Keiner hat gewonnen, keiner kann seine Agenda alleine durchsetzen“, behauptet der Präsident. Für so einen Pakt müsste Macron jedoch das Linksbündnis sprengen. Dass die Volksfront bislang zusammenhält, hat auch mit Lucie Castets zu tun, mit der sich viele Linke offenbar identifizieren. „Ich komme nicht zum Zuschauen“, sagte sie als Ballmädchen vor 22 Jahren. „Ich wurde ausgewählt, weil ich gut bin, und das ist das Einzige, was zählt.“

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