Don Fernando Altieri ist schon genervt. Immer wieder rufen jetzt Menschen an, die in der Vergangenheit von Giorgia Meloni bohren und wissen wollen, wie das mit ihr und der Kirche ist. „Ich habe sie zuletzt vor ein paar Wochen hier gesehen“, sagt der Pfarrer der Kirche Santa Maria del Carmelo in Rom. „Letztes Jahr war sie jeden Sonntag da, jetzt sieht man sie wegen der vielen Verpflichtungen weniger.“ Wenn man nicht irrt, ist bei Don Altieri ein wenig Stolz durchzuhören, dass er ein so prominentes Gemeindemitglied hat: Giorgia Meloni, Parteichefin der ultrarechten, postfaschistischen „Brüder Italiens“, mutmaßlich bald Ministerpräsidentin Italiens und erste Frau in diesem Amt.
Die Kirche Santa Maria del Carmelo im Torrino-Viertel ist ein Gebäude aus den 19070er Jahren, sie hätte das Zeug für einen Stanley-Kubrick-Film. Man kann sich künftige Regierungschefin nicht so recht vorstellen, wie sie in diesem gottgeweihten Raumschiff andächtig in der Bank sitzt, sich bekreuzt, still hält, besinnlich ist. Man hat sie ja zuletzt vor allem eher laut erlebt, im Wahlkampf. Mit Parolen wie: „Ich bin Giorgia, ich bin eine Frau, eine Mutter, eine Italienerin, eine Christin!“ Oder: „Dio, patria, famiglia“ – Gott, Vaterland, Familie.
Es gibt schlimmere Szenarien für die katholische Kirche in Italien als eine Frau, die sich gottesfürchtig, christlich und familienfreundlich gibt. Allerdings hat diese Haltung bei Meloni eine rechtsradikale Note. „Dio, patria, famiglia“ etwa ist ein Slogan, den die italienischen Faschisten unter Diktator Benito Mussolini dem italienischen Risorgimento entlehnt haben. Die italienische Trias sollte den als ungebremst wahrgenommene Freiheitswahn der französischen Revolution in sicherere Bahnen lenken. Die Faschisten nutzten den Spruch 70 Jahre später für ihre Propaganda.
Die Anfänge der kleinen Giorgia hätten nicht weiter entfernt von dieser Ideologie liegen können. Der Vater, Steuerberater, Kommunist und Atheist, ließ die Familie Ende der 1970er Jahre in Rom im Stich und zog auf die Kanarischen Inseln. Als Vermächtnis verbot er der Mutter noch, die beiden Töchter zu taufen. Die vaterlose Giorgia muss ihre Großmutter jeden Sonntag im römischen Garbatella-Viertel zur Messe begleiten. Getauft wird sie erst mit acht Jahren, spät für italienische Verhältnisse. Der Gemeindepfarrer drängte die Mutter, Giorgia wird sogar Ministrantin.
Johannes Paul II. als Fixpunkt
Der fortgelaufene Vater erklärt viel bei Meloni: „Das ständige Bedürfnis, sich zu messen, akzeptiert zu werden, vor allem in einem männlichen Umfeld, sowie die Angst, diejenigen zu enttäuschen, die an mich glauben, kommen wahrscheinlich von der fehlenden Liebe unseres Vaters“, schreibt sie hellsichtig in ihrer Autobiographie „Io sono Giorgia“ (Ich bin Giorgia). Glaubt man an die Macht des Unbewussten, dann hat der kommunistische, atheistische Vater die junge Giorgia höchstwahrscheinlich nicht nur zu den Neofaschisten, sondern auch in die Arme der Kirche getrieben. Alles, was ihm nicht entsprach, war in der Welt der verletzten kleinen Giorgia gut. Als ihr Vater vor ein paar Jahren starb, sei sie gleichgültig geblieben, berichtet Meloni. „Da wurde mir klar, wie tief das schwarze Loch war, in dem ich den Schmerz, nicht genug geliebt zu werden, vergraben hatte.“
So jemand wie sie brauchte Fixpunkte. Es boten sich an: die Jugendorganisation der italienischen Neofaschisten, die Fronte della gioventù – und Johannes Paul II.. Der 2005 gestorbene Papst aus Polen ist für Meloni nichts weniger als „der größte Pontifex der Moderne und der größte Staatsmann des 20. Jahrhunderts“. Im Gegensatz zur Politik-Nomenklatura in Rom hatte die politisch aufstrebende Meloni auch als Jugendministerin unter Silvio Berlusconi (2008-2011) aber kaum einen Draht zur katholischen Hierarchie, von einem Netzwerk ganz zu Schweigen.
Für die Protagonisten des römischen Machtapparats, von ganz links bis zur rechten Mitte war der Vatikan immer ein wichtiger Bezugspunkt. Meloni begann erst jetzt, mit 45 Jahren, Kontakte zu schmieden. Kurz vor der Parlamentswahl, bei der die „Brüder Italiens“ 26 Prozent der Stimmen holten, suchte sie Robert Kardinal Sarah auf, bis 2021 Präfekt der Kongregation für die Gottesdienstordnung und Liturgie. Sarah zählt mit Georg Ludwig Müller, Raymond Leo Burke und George Pell zu den bekanntesten und von Papst Franziskus kalt gestellten Traditionalisten im Vatikan. Der Prälat aus Guinea hat einen engen Draht zum zurückgetretenen Papst Benedikt XVI. Mit ihm zusammen brach Sarah vor der Amazonien-Synode 2019 eine Lanze für den Zölibat und torpedierte damit das Reformprojekt von Franziskus, der die Weihe verheirateter Männer in Erwägung gezogen hatte. Das aktuelle Pontifikat neigt sich seinem Ende zu. Der 77-jährige Sarah ist der Hoffnungsträger der Ultrakonservativen im nächsten Konklave. Mit ihrem Besuch wollte Meloni eine Lücke schließen.
Seit 2019 ist die Rechtsaußen-Politikerin eine Ikone der Traditionalisten. Auf dem Weltfamilienkongress in Verona, einer Versammlung militanter Abtreibungsgegner, versprach (die unverheiratete) Meloni damals in einer fulminant aggressiven Rede „die natürliche, auf die Ehe gegründete Familie“ zu verteidigen. Sie schrie „Nein zur Gender-Ideologie“, forderte das Ende der Abtreibung, das Verbot der Leihmutterschaft und gewann die Zuhörer endgültig für sich, als sie das Mittelalter als „Epoche der Kathedralen und Klöster“ lobte, als die Zeit des Heiligen Franziskus und des Heiligen Benedikt und „die größte aller Verfolgungen anprangerte: den Genozid an den Christen in der ganzen Welt“. Das Publikum war aus dem Häuschen und Meloni, die frühere Neofaschistin, hatte sich einen neuen Kosmos von Bewunderern erschlossen.
Zu diesem zählt etwa Camillo Ruini. Der Kardinal war als Vorsitzender der italienischen Bischofskonferenz (1991-2007) der mächtige, verlängerte Arm der Päpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI. in die italienische Kirche, aber nicht nur das. Ruini steht für eine Kirche, die sich ohne Weiteres in die Politik einmischt, direkt oder indirekt. Der heute 91-Jährige hat den Aufstieg Melonis aus nächster Nähe beobachtet, die Politikerin verkörpert für Ruini die Hoffnung auf eine konservative Kehrtwende der Politik in Italien. „Ich finde sie sympathisch und taff“, erzählte Ruini vor Kurzem im Corriere della Sera. „Ein Schlüssel für ihren Erfolg ist ihre Klarheit und ihre Kohärenz ihrer Standpunkte. Sie kommt mir sehr scharfsinnig vor und schnell darin, Probleme zu erfassen.“
Diesen Standpunkt teilen viele konservative Kleriker in Italien. Berührungsängste oder gar Tabus im Hinblick auf Melonis neofaschistische Vergangenheit, ihren Ultranationalismus und die Faschismus-Nostalgie in der Partei gibt es im Allgemeinen nicht. Zum Einen zog sich Italien mit der resistenza ab 1943 selbst aus dem braunen Sumpf. Der Faschismus hat Italien weniger traumatisiert, er muss deswegen auch weniger tabuisiert werden. Die weit verbreitete, verkürzte Lesart lautet bis heute: Mussolini hat zwar mit dem Erlass der Rassengesetze, der Allianz mit Hitler und dem Kriegseintritt Fehler begangen, aber sonst auch Positives geleistet. Italiens Beteiligung am Holocaust wird weitgehend ignoriert. Diese Sicht macht die Postfaschistin Meloni auch für die Kirche verdaulich.
Kann Meloni einen neuen Konservativismus prägen?
Die Frage, ob Meloni einen neuen Konservativismus in Italien prägen kann, treibt auch die klerikale Rechte um. Im September brachte ein Parlamentarier der Meloni-Partei eine Gesetzesinitiative ein, derzufolge abgetriebene Föten auch gegen den Willen der Eltern auf Friedhöfen begraben werden sollen. Antonio Suetta, erzkonservativer Bischof von Ventimiglia-Sanremo verteidigte den Vorschlag als „kohärent und gut“. Es sei eine Frage der Würde des Menschen, dass ein Fötus ein ordentliches Begräbnis bekommt und „nicht im Sondermüll landet“, meinte der Bischof. Die Pro-Life-Bewegung in Italien verehrt Meloni.
Mit der Kirche, wie sie sich Papst Franziskus vorstellt, hat das alles wenig zu tun. Unter Jorge Bergoglio hat sich die Kirche immer mehr zurück gezogen aus ihrer alten Gewohnheit, Einfluss in Politik und Gesellschaft zu nehmen. Diesen Kurs fährt auch die italienische Bischofskonferenz unter ihrem Vorsitzenden Matteo Zuppi, Erzbischof von Bologna und seit 2019 Kardinal. Franziskus beispielsweise befürwortet, dass der Staat mit zivilen Lebensgemeinschaften auch homosexuellen Paaren Rechtssicherheit verschafft. „Ich muss gestehen, dass ich Papst Franziskus nicht immer verstanden habe“, schreibt Meloni in ihrer Autobiographie. „Ich sehe zu viele Atheisten, die ihm zujubeln und zu viele verwirrte Gläubige.“
Katholische Traditionalisten hätten es nicht besser formulieren können. Insbesondere Franziskus‘ Mahnung zur Integration von Migranten, aber auch sein Aufruf zur Erhaltung der Schöpfung sind der künftigen Ministerpräsidentin ein Dorn im Auge. „Öko-Ideologie“, nennt Meloni Letzteres. Sie, die als rechtschaffene Katholikin behauptet, es sich nie herauszunehmen, einen Papst zu kritisieren. „Manchmal habe ich mich wie ein verlorenes Schaf gefühlt und hoffe, eines Tages, das Privileg zu haben, mit ihm zu sprechen“, schreibt Meloni über Franziskus. Die Begegnung dürfte schon bald stattfinden. Regierungschefs, insbesondere italienischen, hat Franziskus noch nie eine Audienz verwehrt.