An diesem Wochenende wird gewählt in Italien – und Benito Mussolini ist wieder in aller Munde. In den italienischen Buchhandlungen liegen Bücher in den Vitrinen, die den duce und den italienischen Faschismus zum Thema haben. „Der lange Schatten des Faschismus“, lautet der Titel eines der meist verkauften Bücher dieser Tage, Untertitel: „Warum Italien immer noch an Mussolini hängt“ Hört das denn nie auf?
Ende Oktober jährt sich die faschistische Machtergreifung in Italien zum 100. mal. Mussolinis Marsch auf Rom im Jahr 1922 war der Startschuss des sogenannten ventennio, der mehr als 20 Jahre währenden faschistischen Herrschaft in Italien. Ziemlich genau 100 Jahre später dürfte eine gewisse Giorgia Meloni das Mandat zur Bildung der neuen italienischen Regierung bekommen. Meloni führt die postfaschistische Partei Brüder Italiens an, die stärkste Kraft bei der Wahl werden wird. Sie war als Jugendliche und junge Frau eine Verehrerin Mussolinis und mag den duce auch heute noch, auch wenn sie das so nicht mehr sagen kann. Wie ist das möglich?
Manchmal heißt es, Geschichte wiederhole sich. Sie wiederholt sich nicht. Und eine demokratisch gewählte Regierung Meloni hat nichts mit dem brutalen faschistischen Regime ab 1922 zu tun. Aber Geschichte, wenn wir uns ihre Folgen nicht klar machen und in einem inneren Prozess betrachten, präsentiert sich in Variationen wieder. Das hat mit den persönlichen und kollektiven Traumata zu tun, die gesellschaftliche und persönliche Katastrophen mit sich bringen. Die Traumata, die wir alle am liebsten vergessen und vor allem nicht mehr spüren wollen, sind der Schlüssel zu unserer Gegenwart.
Die Traumata als Schlüssel zur Gegenwart
Die herkömmliche Methode im Umgang mit diesen Traumata ist, sie zu ignorieren. Das 20. Jahrhundert war das blutigste Jahrhundert aller Zeiten. Über 100 Millionen Menschen starben alleine in den Kriegen. Wir im Westen meinen oft, Zeugen eines unwiederbringlichen Fortschritts zu sein. Menschlich betrachtet fällt die Bilanz – bei allen positiven Ausnahmen und Beispielen – verheerend aus.
Unrecht und Gewalt erzeugen Traumata. Die kollektiven Traumata sitzen ebenso tief wie die persönlichen, vielleicht tiefer. Totalitaristische Systeme, Bürgerkriege, die Verfolgung von Minderheiten, Unterdrückung von Volksgruppen, Kriege. All das sind Auslöser für kollektive Traumata, die unsere Gesellschaften bis heute prägen, auch wenn die Ereignisse 40, 80 oder 100 Jahre zurückliegen. Opfer leiden unter den Traumata, aber nicht nur sie. Auch auf Seiten derjenigen, die für die Taten verantwortlich waren, erfolgen Traumatisierungen. Wer einem anderen Menschen schweres Leid zufügt, ist traumatisiert. Ob er will oder nicht.
Deshalb ist es auch sinnlos, wie Meloni zu behaupten, man habe den Faschismus „der Geschichte überlassen“. Man denkt dann, man habe mit dieser Angelegenheit nichts mehr zu tun. Doch hinter dem Schlagwort „Faschismus“ verbirgt sich nicht nur in Italien Bekämpfung und Ausgrenzung Andersdenkender, eine menschenverachtende Rassenideologie, systematische Vernichtung vermeintlich minderwertiger Menschen, ein wahnsinniger Eroberungskrieg, Kolonialverbrechen und vieles mehr. Menschen litten unser dieser Ideologie, Urgroßeltern, Großeltern, Eltern, mit anderen Worten: Familien.
Tabus deuten auf Traumatisierungen hin
Alle diese Verbrechen, bei denen Menschen massenhaft zu Schaden kamen, haben Folgen, die bis heute spürbar sind. Traumata und Tabus werden über Generationen hinweg weitergegeben. Der wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags hat zu diesem Thema 2016 ein wenig beachtetes, aber sehr aufschlussreiches Papier herausgegeben. Es beschreibt, wie Traumatisierungen bis über drei Generationen weitergegeben werden können. Auch Tabus deuten auf Traumatisierungen hin. Man mag sich nur einmal eine einzelne, am besten die eigene Familiengeschichte ganz genau ansehen. Dann können Verbindungen der damaligen Geschehnisse zum eigenen Leben hervorkommen. Wie gingen Vorfahren, die Gewalttaten selbst miterlebten, mit ihren Traumata um? Sprachen Sie offen über das Erlebte oder verschwiegen sie es?
Insbesondere bei den Täterfamilien gibt es einen verständlichen Drang, das begangene Unrecht zu minimalisieren oder zu verschweigen. Will ich Bescheid wissen? So lautet deshalb die Grundfrage. Es scheint ein natürliches Bedürfnis, die eigene Sippe nicht in Schwierigkeiten zu bringen und das Familiennarrativ loyal fortzuspinnen, es nicht in Frage zu stellen oder mit den Angehörigen zu schweigen. Doch die Wahrheit ist oft unbequem und eine andere. Auf diese Weise entstehen Tabus. Tabus entfalten Wirkung.
„Wenn eine innere Situation nicht bewusst gemacht wird, erscheint sie im Außen als Schicksal.“ Diesen Satz hat der Begründer der analytischen Psychologie Carl Gustav Jung über die Macht des Unbewussten geschrieben. Wir alle sind persönlich, kollektiv, transgenerational in die Geschichte des 20. Jahrhunderts verwickelt, ob wir wollen oder nicht. Nur machen wir uns das meistens nicht bewusst, mit entsprechenden Folgen.
Variationen der Geschichte
In Italien scheint es jetzt manchmal so, als lodere der ideologische Kampf von damals wieder auf, Rechts gegen Links, Faschisten gegen Antifaschisten. Das ist die Variation in der sich wiederholenden Geschichte. Wenn wir die Schatten nicht anschauen, kommen sie zurück.
Es genügt nicht, die Geschichte von Historikern aufarbeiten zu lassen, Ausstellungen zu machen, Denkmäler einzuweihen, eine Gedenkkultur zu schaffen. Die Geschichte wiederholt sich in Variationen, solange wir nicht uns selbst und unsere Familien in Beziehung zu den traumatisierenden Ereignissen setzen. Wir müssen tief in uns selbst und in unsere Familien hinein schauen, wenn wir die irritierende Gegenwart verstehen wollen.
Würden die Italienerinnen und Italiener Carl Gustav Jung ernst nehmen, könnten sie sich fragen, welche innere Situation sie sich angesichts des bevorstehenden Wahlsieges von Giorgia Melonis „Brüdern Italiens“ nicht bewusst machen. Es ist eine große, schwierige Frage, die natürlich auch alle anderen kollektiv traumatisierten Nationen in ihrer jeweiligen Gesellschaft und mit ihren jeweiligen Extremismen betrifft. Extremismen deuten auf nicht verarbeitete Traumata hin. Die Antwort führt im Fall Italiens direkt ins Jahr 1922.
Im kollektiven Bewusstsein
Die Geschichte ist bis heute Spielball der Interessen und der Standpunkte. Das liegt vor allem an den jeweiligen Familiengeschichten und transgenerational weitervererbten Traumata. Wer einen Großvater im antifaschistischen Widerstand hatte oder eine nach Auschwitz deportierte Großmutter, der kann natürlich die „positiven Seiten“ des Faschismus nicht erkennen, die angebliche Ordnung, das Trockenlegen von Sümpfen, die Einführung der Pensionen. Diese Dinge, die von vielen Menschen in Italien nun wieder angeführt werden, wenn es um Mussolini geht, sind völlig unerheblich im Vergleich zum massenhaft beigefügten Leid. Jede Apologie des Faschismus lässt alte Wunden wieder aufbrechen. Italien ist sich über die Auswirkungen des Faschismus und die Beteiligung am Holocaust bis heute kollektiv nicht bewusst.
Eine andere Geschichte, die bis heute tabuisiert wird, ist die Partisanen-Gewalt gegen Mitglieder des faschistischen Regimes nach 1945. Der linksgerichtete, 2020 verstorbene Journalist Giampaolo Pansa, hat die Racheakte der Resistenza, die Massenexekutionen, Akte der Folter und Vergewaltigungen in seinem Buch „Il sangue dei vinti“ (Das Blut der Besiegten, 2003) beschrieben und damit das Narrativ vom heroischen Widerstand, dem Italien seine republikanische Staatsgründung und seine Verfassung verdankt, in Frage gestellt. Die Partisanen kämpften gegen die Faschisten und Nazideutschland, in vielen Fällen waren sie Opfer. Aber sie waren auch Täter.
Pansa berichtete erst vor zehn Jahren, er habe bis zu seinem Tod etwa 20 000 Leserbriefe vor allem von Frauen, auch jüngeren Alters bekommen. „Sie alle erzählen mir von gelebtem Leben, von erlittenen Schmerzen, von ertragenen Schändlichkeiten“, schreibt er im Vorwort der Neuausgabe 2013. Man kann nun mutmaßen, welche politische Einstellung diese Familien heute haben, die die Verherrlichung der Resistenza miterleben und deren eigenes Familienschicksal nie anerkannt wurde. Was ist im 20. Jahrhundert in den Familien derjenigen passiert, die am 25. September die Postfaschistin Giorgia Meloni wählen werden?
Jeder von uns hat seine (Familien-)Schatten, die gesehen werden wollen. Könnte der Aufstieg der Postfaschisten mit Carl Gustav Jung ein äußeres Schicksal sein, das auf der Missachtung einer inneren Situation, der Aufrechterhaltung des Tabus zur massenhaften Partisanengewalt beruht? Statt antagonistisch über die Geschichte zu streiten, statt Faschismus oder Resistenza zu verherrlichen, stünden dann endlich die Menschen und die von ihnen erlittenen und begangenen Taten im Vordergrund. Wir brauchen einen Blick, der zurück zu den Menschen geht. Wenn diese Schicksale anerkannt sind, wenn alle Schicksale anerkannt sind, dann gibt es nichts mehr zu verteidigen.