Italien, die Fußballnationalmannschaft, auch squadra azzurra genannt – da klingen Fußballliebhabern allein schon angesichts der Geschichte die Ohren. Viermal Weltmeister war Italien, vor einem Jahr sogar Europameister. Ein Jahr später, im Juni des Jahres 2022, muss man sich an ganz neue Töne gewöhnen, die der Verteidiger Giorgio Chiellini am Mittwochnacht für seine Landsleute so zusammengefasst hat: „Das wird jetzt eine ganz schwierige Zeit, bitte steht der Nationalelf bei!“
Chiellini war bis Mittwoch Abend Kapitän der Azzurri, nach seinem 117. Länderspiel beendete der 37-Jährige erwartungsgemäß seine Karriere in der Nationalmannschaft. Der Verteidiger war bislang bei Juventus Turin unter Vertrag, jetzt wird er noch für eine Ehrenrunde in die US-Liga zum FC Los Angeles wechseln. Seinen Abschied hatte sich Chiellini anders vorgestellt. Jedenfalls nicht mit einer Auswechslung zur Halbzeit und einer „Demütigung“, wie die italienischen Gazetten übereinstimmend urteilten. Europameister Italien hatte im Londoner Wembleystadion nicht nur die „Finalissima“ gegen Südamerikameister Argentinien mit 0:3 verloren, sondern sich dabei auch noch blamiert.
Wenn das Team von Trainer Roberto Mancini nun an diesem Samstag in Bologna die deutsche Nationalmannschaft am ersten Spieltag der Nations League empfängt, kann kaum von einem Duell auf Augenhöhe die Rede sein. „Wir werden ihre Sparringspartner auf dem Weg zur Weltmeisterschaft sein“, schrieb resigniert „La Repubblica“. Am Samstag in einer Woche muss Italien gegen England antreten, auch hier schwant den heimischen Beobachtern Übles. Das italienische Selbstbewusstsein, insgesamt und besonders im Fußball eigentlich unerschütterlich, liegt ein Jahr nach dem EM-Triumph in Trümmern. Der Niedergang begann wohl schon in der Stunde des Triumphes.
Es war ja eine große Überraschung, dass es Mancini gelang, ein so schlagfertiges, rasant und fußballerisch eher unitalienisch auftretendes Team zu formen, das dann auch noch den EM-Titel holte. Schon gegen Ende des Turniers stockte die Angriffslust der Italiener, der wichtigste taktische Kniff mit dem standardmäßig auf die Linie der Angreifer aufgerückten Außenverteidiger Leonardo Spinazzola funktionierte seit dessen Achillessehnenriss im Viertelfinale gegen Belgien nicht mehr. Im Nachhinein erinnert Italiens EM-Sieg vor einem Jahr eher an den Turniergewinn Dänemarks 1992 oder Griechenlands 2004, als Außenseiter mit absolutem Zusammenhalt und guten Ideen die Konkurrenz niederrangen. Nur, dass der Außenseiter in jenem Fall eben viermaliger Weltmeister war.
Drei Jahre zuvor hatte Italien die Teilnahme an der WM 2018 verspielt, das war die erste Stunde null. Das gleiche Malheur geschah im März dieses Jahres, als Mancinis Männer Nordmazedonien mit 0:1 unterlagen und damit auch die Winter-WM in Qatar verpassten. Zwei Blamagen in Serie für eine Fußballnation wie Italien, eigentlich unvorstellbar. Der EM-Erfolg scheint deshalb so gar nicht in den allgemeinen fußballerischen Niedergang zu passen, er wirkt heute vielmehr wie ein statistischer Ausreißer. „Das Märchen ist zu Ende“, konstatierte die „Gazzetta dello Sport“ dieser Tage lapidar.
Nun gibt es eine ganze Reihe Ausreden, etwa die Verletzung wichtiger Stammspieler wie Marco Verratti, Federico Chiesa, Lorenzo Insigne oder Ciro Immobile. Roberto Mancini berief gleichwohl diese Woche 53 Talente zum Sichtungslehrgang ins Trainingszentrum Coverciano nach Florenz, weil ihm klar ist, dass die jetzige Fußballer-Generation an ihre Grenzen gestoßen ist. Verteidiger Leonardo Bonucci spielte abenteuerlich schwach gegen Argentinien, der einst so sicher auftretende Regisseur Jorginho verlor die Bälle im Mittelfeld. Und gleichwertigen Ersatz für den im Nationalteam umstrittenen, weil selten erfolgreichen Stürmer Immobile ist nicht in Sicht.
„Die Nationalelf ist müde, ohne Selbstvertrauen und orientierungslos“, schrieb der „Corriere della Sera“ nun. Die Nations League stellt für Mancini eine Art unwillkommenes Zukunftslabor dar, er wird neue Kräfte ausprobieren und muss ohne Rücksicht auf Verluste agieren. So richtig große Lust für einen neuen Neuanfang ist bei ihm nicht zu verspüren. Der Trainer gestand, nach der verpassten WM-Qualifikation den Rücktritt in Erwägung gezogen zu haben. „Dieser Neuanfang wird schwieriger“, sagte Mancini. Jetzt geht es wieder von ganz unten los, wieder einmal.