4. November 2019 - Elvio Fassone verurteilt einen Mafioso zu lebenslanger Haft. Er zweifelt nicht an seinem Urteil. Aber er grübelt, wie es so weit kommen konnte. Er schreibt ihm einen Brief. Der Mafioso antwortet. 31 Jahre ist das her. Und sie schreiben sich immer noch.

Es gibt Geschichten, die von Gerechtigkeit handeln und etwas komplizierter sind. Elvio Fassones Geschichte zum Beispiel. Fassone ist heute 81 Jahre alt, er war Senator im italienischen Parlament, zuvor Richter am Obersten Gerichtshof Italiens und Strafrichter. 1988, im Alter von 50 Jahren, war der Jurist aus dem Piemont Vorsitzender in einem großen Mafia-Prozess in Turin. 242 Sizilianer eines Clans aus Catania waren angeklagt, es ging um Mord und Erpressung, das Verfahren kam nur mühsam voran, weil Anwälte und Angeklagte alles versuchten, um den Prozess zu behindern. Dem vorsitzenden Richter Fassone kam damals ein Einfall, der sein Leben verändern sollte. Er gab bekannt, dass er nach Verhandlungsschluss immer noch eine Weile im Gerichtssaal warten würde und bereit sei für Anfragen persönlicher Art. Das Klima im Gerichtssaal änderte sich. Die Gefangenen in Untersuchungshaft konnten sich noch im Gericht an den Richterwenden und ihre Bitten vortragen: die Bitte um Ermöglichung eines Zahnarzttermins in der Untersuchungshaft oder um einen wichtigen Familienbesuch im Gefängnis. Der Prozess dauerte mehr als zwei Jahre.

Der Richter, Exponent eines Staates, den die Mafia als Feind wahrnimmt, hatte plötzlich ein menschlicheres Antlitz. So kam es auch, dass einer der Hauptangeklagten sich nach Verhandlungsschluss an Fassone wendete mit folgenden Worten: Den Richter beschleichen Zweifel: Ist das Gerechtigkeit? Herr Richter, haben Sie einen Sohn?“, fragte der 27-jährige Boss, dem hier der Name Salvatore gegeben werden soll. „Ich habe drei Söhne“, antwortete Fassone, „der Älteste ist so alt wie Sie“. Salvatore entgegnete: „Wenn Ihr Sohn dort aufgewachsen wäre, wo ich herkomme, dann säße nun er hier und ich wäre an seiner Stelle.“ Der Richter entgegnete, was ein Richter in dieser Situation sagen muss. Dass jeder Mensch letztlich selbst mitentscheiden kann, ob er auf die rechte oder die schiefe Bahn gerät. Dass Herkunft zwar ein wichtiger, aber nicht alles entscheidender Faktor ist. Am Ende des Prozesses verurteilten Fassone und seine Kollegen 20 Mafiabosse, die zahlreiche Morde zu verantworten hatten, zu lebenslanger Haft. Salvatore, einer…