Augsburger Allgemeine, 11. April 2020 - Der italienische Neurobiologe Stefano Mancuso über menschliche Dummheit, die Intelligenz der Pflanzen und warum wir die Corona-Pandemie als freundlichen Hinweis annehmen sollten.

Stefano Mancuso

Stefano Mancuso

Die Welt steckt mitten in einer Virus-Pandemie. Warum hat es Sinn, sich jetzt an den Pflanzen zu orientieren? Stefano Mancuso: Schauen wir doch erst einmal, was wir angerichtet haben. Eine der Konsequenzen unseres katastrophalen Fingerabdrucks, den wir auf der Erde hinterlassen, ist die Verbreitung vieler Krankheiten, vieler Viren, die vom Tier auf den Menschen übergehen. Wir wissen das seit Jahren. 2009 wurde in der Zeitschrift Nature eine Untersuchung vorgestellt, die zeigt, dass sich der Übergang von epidemischen Krankheiten vom Tier auf den Menschen in den vergangenen 40 Jahren verdreifacht hat. Und dafür sind wir selbst verantwortlich? Mancuso: Ohne Zweifel. Der Hauptgrund ist, dass wir die natürlichen Rückzugsräume der Tiere zerstören. Wir zerstören die Lebensräume etwa der Fledermäuse, die Coronaviren in sich tragen, wir zerstören die Urwälder, wir bauen neue Städte, dort, wo vorher keine waren. Der Übertritt solcher Viren auf den Menschen wird damit unvermeidbar. Schauen wir uns die Pflanzen an. Sie sind seit Millionen von Jahren auf der Erde und wissen, wie sie hier überleben. Der Mensch hinge-

gen denkt nur an sich selbst, wir haben eine komplett anthropozentrische Sicht auf alles. Doch wenn wir die Welt nur aus unserer Perspektive betrachten, werden wir als Art nicht überleben. Ich meine das nicht moralisch, mir geht es wirklich nur um eine Frage des Überlebens. Warum soll die anthropozentrische Sicht gefährlich sein? Mancuso: Uns ist nicht wirklich bewusst, dass wir ein Teil der Natur sind. Wir sind keine Wesen, die außerhalb dieses Zusammenhangs existieren. Unser Überleben als Spezies ist nur garantiert, wenn das Überleben der anderen Arten sicher ist. Für uns als Menschen ist es notwendig, dass diese Gemeinschaft der Arten auf der Erde erhalten bleibt. Was also können wir von den Pflanzen lernen? Mancuso: Eine Pflanze würde niemals mehr Ressourcen verbrauchen als ihr zur Verfügung stehen. Pflanzen können nur die Ressourcen nutzen, die sich in dem Stück Erde befinden, auf dem sie leben. Das ist bei uns nicht wesentlich anders.…

Augsburger Allgemeine, 9. April 2020 - Die Corona-Pandemie konfrontiert uns mit dem Lebensende. Zeit, sich dem Tod zu stellen. Er ist das letzte Tabu unserer Gesellschaft.

Wenn es Bilder gibt, die die ganze Dramatik der Corona-Pandemie bündeln, dann sind es die von den Leichentransporten in Bergamo. Man sieht, wie eine Kolonne von Militärfahrzeugen nachts in langsamem Tempo die Stadt verlässt. Was sie transportieren, sieht man nicht. Es sind die Särge der Covid-19-Opfer, dieser oft tödlichen Krankheit, der wir eine abstrakte Kennung gegeben haben, um sie irgendwie zu fassen. Weil ab Mitte März viele Menschen gleichzeitig starben, kamen die Krematorien im norditalienischen Bergamo mit den Verbrennungen nicht hinterher. Die Leichen mussten andernorts eingeäschert werden, das Militär sprang ein. Die Bilder waren nicht nur wegen der Zahl der Fahrzeuge und der in ihnen aufgebahrten Särge schockierend. Sie waren es auch, weil der Tod auf ihnen in seiner ganzen Gnadenlosigkeit zum Vorschein kam. Keine Naturkatastrophe, kein Erdbeben, kein Krieg, kein örtlich begrenztes Drama – nein, das Virus kann uns alle erwischen. Das war die Botschaft der Bilder aus Bergamo. Weil das Sterben in Corona-Zeiten massenhaft vor sich geht, bahnt sich der Tod seinen Weg in die Öffentlichkeit. Das ist auch

das Karfreitagsthema. Im Christentum gedenken Gläubige an diesem Tag dem Tod Jesu, der ans Kreuz genagelt wurde. Der Karfreitag bedeutet Trauer, Stille, Tanzverbot. Leicht vergessen wird dabei, dass ohne Jesu Tod die ganze Osterbotschaft der Auferstehung zu neuem Leben gar keinen Sinn hätte. Der Tod und das Leben sind eins, das lehrt die Ostergeschichte. Auch wer sich nicht als religiös bezeichnet, kann in diesen Tagen dem Tod nicht aus dem Weg gehen. Schließlich ist der „Shutdown“ eine Folge des bereits eingetretenen oder befürchteten Massensterbens. Sars- CoV-2 hält uns unsere Vergänglichkeit vor Augen. Doch nach wie vor verweigern sich viele dem Thema. Das gilt vor allem für jüngere Generationen und liegt in gewisser Hinsicht am Lauf der Dinge. Bis zur Lebensmitte sind wir mit vielem beschäftigt, mit dem Beruf oder der Familie. Ab der Lebensmitte folgen meist die ersten Gedanken über das unvermeidliche Ende, das ver- meintlich immer noch sehr weit…