Annette Schavan ist nicht das, was man sich unter einer Draufgängerin vorstellt. Wie es aber mit verbindlich wirkenden Menschen nicht selten passiert, schleicht sich zuweilen auch ein anarchisches Element in ihr Leben. Bei der scheidenden deutschen Botschafterin am Heiligen Stuhl in Rom wird dieser Aspekt von einer roten Vespa symbolisiert, die sich Schavan zu Beginn ihrer römischen Zeit im Jahr 2014 zulegte. Es bedarf Muts, um sich mit einem Zweirad in den Verkehr der italienischen Hauptstadt zu stürzen. Schavan gibt zu, dass sie eher die ruhigen Gassen bevorzugte und die Vespa auch häufiger ungenutzt stehen blieb. Aber ein leuchtendes Symbol war diese Vespa doch. Für Freiheit und einen Neubeginn, auch wenn er von einer damals 59-Jährigen begangen wurde.
Die Vespa wird dieser Tage verkauft; was das für Schavans Bemühungen um Freiheit und Neubeginn bedeutet, ist noch nicht ganz klar. Die ehemalige Bundesbildungsministerin, die 2013 über Plagiatsvorwürfe im Zusammenhang mit ihrer Doktorarbeit stolperte, kehrt Ende Juni in ihre Wahlheimat Ulm zurück und will dann im Sommer über ein paar Angebote entscheiden, die ihr bislang unterbreitet wurden. Einer bereits bestehenden Gastprofessur in Schanghai will sie sich zum Beispiel intensiver widmen, auch ehrenamtlicher Arbeit. Ulm soll jedenfalls die zukünftige Basis sein, aber ohne Vespa. Eine Rückkehr in die Politik schließt Schavan aus. »Diese Art von Dienst ist vorbei«, sagt sie.
Für eine Politikerin mit Ambitionen, die sich zuletzt vier Jahre lang als Diplomatin üben durfte, ist das ein bemerkenswerter Satz. Er klingt weniger nach Resignation als nach Realismus. Vor Monaten war die 63-Jährige als Leiterin der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) im Gespräch, die Widerstände aus der eigenen Partei waren aber so stark, dass die Kandidatin selbst Abstand von ihrer Kandidatur nahm. Schavan ist die vielleicht engste politische Freundin von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Diese Freundschaft hat Vorteile, etwa, dass man nach einer Affäre nicht ins politisch Bodenlose fällt, sondern durchaus sanft landet. Bisweilen hat diese Freundschaft aber auch einen hohen Preis. Schavan musste sich anhören, wegen der Aberkennung ihres Doktortitels für den Auswärtigen Dienst nicht geeignet zu sein, auch in der Geschichte um ihre KAS-Kandidatur zielten einige auf die Ex-Ministerin, um die Kanzlerin zu treffen. Deshalb geht es jetzt für Schavan zurück ins beschauliche Ulm, wo die Rheinländerin früher ihren Wahlkreis hatte. Nach Stationen, die eher nach Weltpolitik oder zumindest dem großen Ganzen klangen wie Berlin und Rom.
Rückzug an den Bodensee
Ist das das Ende der öffentlichen Figur Annette Schavan und der Start eines neuen Lebens abseits der großen Aufmerksamkeit? Ulm liegt nahe am Bodensee, der ist Schavans geliebtes Erholungsgebiet, er entspricht der Merkelschen Uckermark. Es klingt arg romantisch, aber offenbar haben die beiden Frauen auch über ihre Liebe zur Natur und deren Wirkung zueinandergefunden. Die stattliche, nicht ungemütliche und in einen sehr schönen Garten eingebettete deutsche Vatikan-Botschaft im römischen Nobel-Stadtteil Parioli muss da Kontrapunkt und Kontinuität zugleich gewesen sein. Die Politikerin Schavan wurde hier unmittelbare Zeugin eines politischen Pontifikats. Die Bundeskanzlerin war häufig zu Besuch. Man kann sich aussuchen, ob nun Papst Franziskus oder Schavan die Auslöser für die außerordentliche Dichte der Kanzlerinnenbesuche in Rom waren. Doch in ihrem nordrömischen Idyll hatte die Botschafterin auch Gelegenheit zum Durchatmen. Es seien vier Jahre mit mehr Zeit gewesen nach einem »durchgetakteten Leben in der Politik«, erzählt Schavan, die in ihren letzten Tagen in Rom sogar noch ein eigenes Buch präsentierte. »Gott, der erneuert«, lautet der Titel. Natürlich ist er politisch gemeint. Er ist aber auch persönliches Programm.
Schavan ist als rheinische Katholikin mit den Prämissen des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965) groß geworden und hat, wie viele Zeitgenossen, ein paar Jahrzehnte auf die damals anvisierte kirchliche Erneuerung gewartet. Dass sie den zögerlichen Umstürzler Franziskus nun aus nächster Nähe erleben durfte, als Mittlerin zu einer Weltpolitikerin und Freundin, die ein immer einsameres Symbol für Beständigkeit in der westlichen Welt geworden ist, muss man zumindest als gut gelungene Fügung bezeichnen. Auffällig ist natürlich auch, dass es machtpolitisch mit dem Dreigestirn Franziskus–Merkel–Schavan doch eher bergab geht. Der Papst hat seine Grenzen kennengelernt, müht sich gegen innere Widerstände und bleibt dabei selbst nicht ohne Widersprüche, zuletzt etwa bei der Frage der Kommunion für protestantische Ehepartner. Auch die Kanzlerin sieht den Abend ihrer Karriere nahen. Ihre politisch großzügigste, manche sagen fahrlässigste Entscheidung, 2015 die Grenzen für Flüchtlinge vorübergehend zu öffnen, bringt Merkel nun in größte Bedrängnis.
Frieden machen
Schavans Katharsis verlief wesentlich abrupter und begann schon vor Jahren. Die ehemalige Bildungsministerin, der die Universität Düsseldorf den Doktortitel wegen »vorsätzlicher Täuschung« aberkannte, hat in Rom den Abschied von der Macht lernen müssen. »So etwas macht einen kaputt, oder es gibt einem Stärke und Unabhängigkeit«, sagt Schavan über ihren Umgang mit der Plagiatsaffäre. Auch wenn sie sagt, Frieden gemacht zu haben mit diesem Grabstein auf ihrer politischen Karriere, scheint die Sache nach fünf Jahren aber immer noch nicht komplett ausgestanden zu sein. Schavan bemüht das Bild einer Schublade mit der Aufschrift »unlösbar« für den Fall. Sie will sich nicht den Rest des Lebens mit einer Frage beschäftigen, die sie selbst nicht mehr lösen kann. Sie sagt aber auch, man brauche Zeit, um innerlich Frieden mit so einer Situation zu schließen. Wenn man nicht falsch liegt, ist dieser Prozess immer noch im Gang.
Wer also aus einem streng getakteten Politikerleben unverhofft in die Diplomatie purzelt, der kann es danach auch nicht wirklich ruhig angehen lassen. In gewisser Hinsicht erlebte auch die manchmal gemütlichere, manchmal aktivere deutsche Vatikanbotschaft unter Schavan ihre Erneuerung. In ihrer Residenz jagte eine Matinee das nächste Kamingespräch, eine Konferenz das nächste Symposion. Dabei drängte sich der Botschafterin ein großes Lebensthema förmlich auf. Man kann es vielleicht so umschreiben: Die katholische Kirche, aber auch das Christentum insgesamt haben für Schavan das Potenzial eines kulturellen Laboratoriums, dessen Vielfalt nicht zu Identitätsverlust führt, sondern die Pluralität gewinnbringend erhält. Die Franziskus- und Merkel-Verächter, die natürlich auch unerbittliche Schavan-Kritiker sind, können darüber nur angesäuert lächeln. Sie sehen drei Multikultis mit abgeblättertem christlich-konservativem Lack am Werk. Darüber muss Schavan dann wiederum schmunzeln.
Besuch bei Moses
Wenn mal nichts los war, also selten, dann begab sich die Botschafterin zu ihren Lieblingsplätzen in Rom. Die morgens sehr angenehmen Gassen des Ausgehviertels Trastevere gehören dazu wie der Gianicolo-Hügel mit den Freiheitskämpfern Garibaldis oder das ehemalige jüdische Ghetto am Tiberufer. Aber ihr Lieblingsort in Rom befindet sich in der alten römischen Urbs, wo das Knattern der letzten Vespas noch nicht verstummt ist, nur einen Steinwurf vom Kolosseum entfernt. In der Kirche San Pietro in Vincoli, in der die Ketten des Märtyrers und Apostels Petrus aufbewahrt werden, steht die eigentliche Schavan-Figur in Rom, die es schon unzähligen Besuchern besonders angetan hat, unter ihnen auch der Seelendeuter Sigmund Freud. Es ist der marmorne Moses von Michelangelo, den man mit heutigen Augen fast mit einem bartverliebten, schlecht gelaunten Hipster verwechseln könnte, wären da bloß diese Hörner nicht. Die Hörner gelten als Überreste der mosaischen Erleuchtung auf dem Berg Sinai, wo Moses die göttlichen Gesetze entgegennahm. Sein Grimm soll vom Blick auf das Volk Israel herrühren, das der Führer beim Tanz um das Goldene Kalb erwischt. Michelangelos Moses, die große Figur des Alten Testaments, erlebt Machtlosigkeit und Frust. Der Macher wird Mensch.
Angela Merkel hat gerade ihren mosaischen Moment mit den Populisten, der Papst spürt seine Machtlosigkeit oft schon direkt nach dem Frühstück. Ja, und was bedeutet es eigentlich, dass Annette Schavan sich so von dieser Moses-Figur berührt fühlt? Sie hat doch gar keine Macht mehr. »Michelangelos Moses ist für mich der Inbegriff für politische Leadership«, sagt Schavan, und man wundert sich, dass da jemand, der schon aus der Politik Zwangsabschied genommen hat, eine politische Führungsfigur noch als so überaus anziehend empfindet. Ist es vielleicht doch noch nicht vorbei, kann sie gar nicht anders, als zu führen? »Das ist nicht meine Zukunft, sondern gehört zu meiner Lebensgeschichte«, versichert Schavan. Es könnte der Blick des Moses in San Pietro in Vincoli sein, der es der Botschafterin so angetan hat. Er erkennt die Grenzen der eigenen Macht und braucht einfach noch ein bisschen Zeit, um damit zurechtzukommen.