Wer Gigi Buffon und seinen Kollegen am Freitag zusah, wie sie die italienische Nationalhymne sangen, der konnte meinen, es gehe nicht um Sport, sondern ums Überleben. Mit kriegerischem Gesichtsausdruck trugen die Nationalspieler die Strophen der Hymne von Goffredo Mameli vor, die in den Worten gipfelt: „Wir sind bereit für den Tod!“ Die Bereitschaft zur Aufopferung für das Vaterland blieb indes ohne Folgen. Italien unterlag im ersten WM-Playoff gegen Schweden nach einem abgefälschten Treffer von Jakob Johansson (61. Minute). Man fragt sich, wie die Kämpen von Trainer Gian Piero Ventura am Montag beim Rückspiel in Mailand die Hymne interpretieren werden, wenn es für den italienischen Fußball wirklich um Alles geht. Erstmals seit 1958 droht die Squadra Azzurra eine WM-Endrunde zu verpassen. Italiens Presse gab am Samstag schon einmal einen Vorgeschmack auf die ungemütliche Zukunft. Von „Horror“, „Abgrund“ und „Apokalypse“ war die Rede.
Doch ein Scheitern Italiens wäre im Grunde nur konsequent. Seit dem Weltmeistertitel 2006 hat sich das Team nicht grundlegend erneuert. Bei den WM-Turnieren 2010 und 2014 scheiterten die Azzurri bereits in der Vorrunde. Immer mehr der Weltmeister von 2006 purzelten Stück für Stück aus dem Team, aber ohne entsprechend ersetzt zu werden. Nur die mit Giorgio Chiellini und Leonardo Bonucci angereicherte Abwehr um die Weltmeister Gigi Buffon und Andrea Barzagli zeigte sich bei der EM 2016 auf der Höhe. Trainer Antonio Conte machte aus seinem zuvor bei Juventus Turin geformten Abwehrblock das Fundament für einen fulminanten Kraftakt, als Italien erst im Viertelfinale nach Elfmeterschießen gegen Deutschland ausschied. Das Engagement des Motivationskünstlers Conte hatte die Wirkung eines Strohfeuers inmitten der Stagnation.
Italiens Nationalelf kommt seit bald zehn Jahren nicht vom Fleck. Contes seit einem Jahr amtierender Nachfolger Ventura sollte die nächste Generation ins Nationalteam einbinden, vertraut aber gegen Schweden wieder auf den alten Block, zu dem auch Weltmeister Daniele De Rossi vom AS Rom zählt. Elf Jahre nach Italiens letztem Titel muss man zweierlei festhalten: Weder haben sich junge Spieler in der Nationalelf unersetzlich gemacht, noch kann sich Italien auf seine alten Helden verlassen. Ventura bezeichnete die Niederlage in Schweden als ungerecht, weil das Team um die Bundesligaprofis Albin Ekdal (HSV) und den formidablen Emil Forsberg (RB Leipzig) nur ein einziges Mal aufs Tor geschossen habe und schob die Schuld auf den Schiedsrichter. Stellvertretend für alle, die ohne Scheuklappen auf die Wirklichkeit blicken wollten, schrieb die Tageszeitung La Repubblica am Samstag: „Das Problem sind wir selbst.“
Eine kluge Analyse hatte zuvor auch Verteidiger Giorgio Chiellini geboten, der Italiens Nicht-Entwicklung in den Gesetzmäßigkeiten des modernen Fußballs verortete. Die den gesamten Kontinent prägende Fußballschule des heute bei Manchester City arbeitenden Katalanen Pep Guardiola habe in Italien den Verlust einer Kernkompetenz bewirkt. Die Entwicklung hin zum schönen, schnellen Spiel, zum Dogma des konstruktiven Aufbaus, so sagte Chiellini sinngemäß, mache die alte italienische Tugend im Verteidigen zunichte. „Wir werden nie Tiki-Taka spielen können, das ist nicht in unserer DNA“, sagte der 33-Jährige.
Chiellini warf damit eine Grundsatzfrage auf, die den Kern der Krise im italienischen Fußball berührt: Wie sehr muss sich eine Fußball-Nation auf den Zeitgeist einlassen, auch wenn sie gar nicht die entsprechenden Mittel dazu hat? Italien hinkt beim Nachwuchs eine Generation hinterher, erst ganz langsam etabliert der Fußballverband Förderzentren, wie sie seit Jahren den Erfolg der deutschen Nationalmannschaft speisen. Einer der wenigen exzellenten Kurzpass-Spieler wie Marco Verratti (25) von Paris Saint-Germain wirkt in der Nationalelf wie im falschen Kontext. Verratti ist technisch so begabt, dass er ohne Weiteres auch bei Manchester City oder dem FC Barcelona einsteigen könnte. In der italienischen Nationalelf scheint er vom uritalienischen Trieb der Vorsicht gehemmt. Er steigt ständig auf den Ball und nimmt so jedes Tempo aus der Partie.
Es ist für Italien auch ein Problem, dass die alte, als „Catenaccio“ verpönte Abwarte-Haltung in Zeiten fußballerischer Schönheit und Geschwindigkeit als immer weniger legitim gilt. Die Squadra Azzurra gründet jedoch ihre Erfolge seit jeher vor allem auf eine exzellente Abwehr. Als es noch Liberos gab, machten Spieler wie Gaetano Scirea oder Franco Baresi Schule. Scirea wurde 1982 Weltmeister, Baresi war als Abwehrchef später auch unter Arrigo Sacchi der Schlüssel für die prägenden Erfolge des AC Mailand Ende der 80er Jahre. Dort verewigten sich eine Genration später auch Paolo Maldini und Alessandro Nesta. Nesta wurde 2006 im Duo mit Paolo Cannavaro Weltmeister. Dann kam Guardiola mit dem FC Barcelona. Italiens Nationalelf hat keine Antwort auf die modernen Zeiten. Zaubern oder Zerstören? Italiens Antwort lautet: Zaudern.
Dabei spielt auch die Serie A eine entscheidende Rolle. Hier hat sich der Wandel vollzogen. Tabellenführer ist der SSC Neapel, der mit vielen Ausländern und Lorenzo Insigne, dem begabtesten italienischen Fußballer, seine Gegner in der Liga per offensivem Kurzpass an die Wand spielt. In der Nationalelf sitzt Insigne meist auf der Bank, wird er eingesetzt, ist es oft schon zu spät. Italien traut seinen Technikern nicht. Auch Serienmeister Juventus Turin spielt einen zeitgenössischen Stil, Inter Mailand hat mit Luciano Spalletti eine Art italienischen Guardiola, der AS Rom spielte für italienische Verhältnisse jahrelang fahrlässig offensiv. Dass die Clubs mithilfe ausländischer Spieler die Entwicklung absorbiert haben, ist an der Fünfjahreswertung der Uefa zu erkennen: Dort hat sich die Serie A inzwischen an der Bundesliga vorbei auf Platz drei hinter spanischer Liga und englischer Premier League positioniert und erhält ab der kommenden Spielzeit ebenfalls vier Startplätze in der Champions League. Die Nationalelf hingegen stagniert. Die wackeren, aber durchaus irdischen Schweden sind nun der Maßstab. Möglicherweise sind sie für Italien sogar eine Nummer zu groß.