Der achte König von Rom

FAZ, 30.5.2017 - Francesco Totti war der AS Rom. Nun macht er nach 25 Jahren Schluss. Was wird der Klub ohne ihn sein?

Was nun, Francesco Totti?

Was nun, Francesco Totti?

In welchem Moment exakt das Jahr 1 n.T. (nach Totti) begann, ist schwer zu sagen. Vielleicht startete die neue Zeitrechnung für den AS Rom, als der Kapitän am Sonntagabend nach der Partie gegen den CFC Genua bei seiner Ehrenrunde vor der Gegengeraden innehielt, sich auf eine Werbebande stützte und zusammen mit seinen 60 000 Verehrern im römischen Olympiastadion in einen Weinkrampf ausbrach. Vielleicht wurde Francesco Totti sich auch erst bewusst, dass es jetzt vorbei ist, als er vor der Südkurve zum Stehen kam, in der der harte Kern der Roma-Tifosi zuhause ist. Totti legte beide Hände hinter den Kopf, neigte das Haupt und sank erneut in sich zusammen. Selbst vergleichsweise unbeteiligte Beobachter vergossen in diesen Momenten mindestens eine Träne für die größte lebende Identifikationsfigur Roms.

Es ist dies der Schlüssel zum Verständnis der Ikone Totti: In einer Stadt, die wie keine andere Metropole auf der Welt von ihrer Vergangenheit zehrt, hat dieser Fußballer den Menschen die Illusion einer immer noch großartigen Gegenwart beschert. „Du warst ein Traum“, titelte der in Rom ansässige Corriere dello Sport am Dienstag und fasste so das Verdienst Tottis um sein Volk zusammen. In ihm, der 25 Spielzeiten lang ununterbrochen das gelb-rote Dress des Vereins seiner Heimatstadt getragen hat, bündelten sich nicht nur die Sehnsüchte und Projektionen der Römer, sondern auch Frust, Enttäuschungen und Beschränktheiten. Der Fußballer Totti war das Alter Ego der ewigen Stadt, die nun in gewisser Weise ihres weltweit bekannten Botschafters und damit ein Stück weit ihrer eigenen Identität beraubt ist.

Ein Großteil der Tifosi trug auf dem Weg zum Stadion weinrote Roma-Trikots mit Tottis Namen und der Nummer 10, nicht wenige von ihnen handsigniert. Noch vor Anpfiff der Partie gegen den CFC Genua drehte ein Propellerflugzeug seine Runden über dem Stadion und zog einen Banner mit der Aufschrift „Grazie capitano“ hinter sich her. Einen Hauch von Tragik steuerte die Tatsache bei, dass der 40 Jahre alte Hauptdarsteller auch am „Totti Day“ (Gazzetta dello Sport) von der Ersatzbank aus starten musste. Einen ab Sommer laufenden Sechs-Jahres-Vertrag für den Einstieg ins Management beim AS Rom hatte der körperlich schon länger an seine Grenzen gekommene Totti in einem Moment der Vernunft bereits unterschrieben. In seiner emotionalen Abschiedsrede nach dem Match gestand er jedoch glaubhaft, er habe gehofft, dass der Moment des Aufhörens ewig aufgeschoben würde. „Verdammte Zeit“, sagte Totti und sprach auch seinem Publikum aus dem Herzen.

Zuvor hatten römische und internationale Schnulzen aus den Stadionlautsprechern, eine Stadionchoreographie, bei der Zehntausende gelbe und rote Kartons mit der Nummer zehn und Tottis Namen in die Luft hielten, die monumental-triste Atmosphäre noch verstärkt. Tottis Karriereende am letzten Spieltag der Serie A, bei dem fast beiläufig der CFC Genua mit 3:2 (1:1) besiegt und die direkte Qualifikation für die Champions League erreicht wurde, war eine einzigartige Manifestation großer Gefühle. In seiner genuschelten Abschiedsrede gestand derjenige, an den sich die halbe Stadt fast 25 Jahre lang anlehnen konnte, dass er sich Sorgen um seine Zukunft macht. „Ich habe Angst“, sagte Totti. Weil er nicht absehen kann, was das Karriereende mit ihm anstellen werde.

Es war die synthetische Erklärung seines Fußballerlebens, in dem er zu Großvereinen wie dem AC Mailand oder Real Madrid hätte wechseln und möglicherweise einige Titel mehr als eine einzige italienische Meisterschaft (2000) sowie zwei Pokalsiege (2007, 2008) gewinnen können. 2006 wurde Totti mit Italien Weltmeister. Sein Verbleiben in Rom erklärte der gebürtige Römer einmal mit „Liebe und Faulheit“. Die Stadt und der Verein seiner Jugend gaben ihm Sicherheit. Der Status als Volksheld brachte mehr Annehmlichkeiten als er Opfer forderte. Für den Sprung in die Fremde, der Ungewissheit bedeutet, war Totti nie bereit. Gewiss half dabei auch viel Geld nach. Als er in seiner besten Zeit als Kicker nach seinem Jahresverdienst gefragt wurde, wusste der Spieler, der insgesamt 786 mal für den AS Rom auflief, nicht genau, ob es nun acht oder gar zehn Millionen Euro seien.

Es waren auch Nachlässigkeiten dieser Art, die Totti den Römern sympathisch machten. Der Mann, den sie den achten König von Rom nannten, protzt kaum. Abgesehen von seinem außerordentlichen Talent als Fußballer verkörperte Totti zugleich römische Bequemlichkeit, Ignoranz, Ironie und Schlagfertigkeit. Mit seiner Ehefrau, der Fernsehmoderatorin Ilary Blasi und seinen drei blonden Kindern und einer natürlich wirkenden Volksnähe gelten die Tottis als die römische Bilderbuchfamilie schlechthin. „Er ist wie ein Bruder“, sagte ein Tifoso vor dem Abschiedsspiel. Was Bruderliebe bedeutet, bekam vor allem Roma-Coach Luciano Spalletti zu spüren, der dem 40-Jährigen in seiner letzten Spielzeit nur noch sporadische, angesichts von Tottis Bedeutung für den Verein als Erniedrigung empfundene Kurzeinsätze und am Sonntagabend großzügig 40 Minuten Spielzeit genehmigte. Tottis Vasallen pfiffen den Trainer, dem die ungebührliche, aber unvermeidliche Demontage eines Denkmals angelastet wird, gnadenlos aus.

Einen wichtigen Teil seines Erfolgs als Fußballer hat Totti dennoch Spalletti zu verdanken, der den Mittelfeldspieler während seines ersten Engagements beim AS Rom (2005 bis 2009) erstmals als Stürmer einsetzte. Totti erzielte unter Spalletti und dessen auf ihn zugeschnittenen Offensivfußball 98 seiner insgesamt 307 Treffer. Wer aber an einem Monument kratzt, für den gibt es keine Gnade. Auch Spalletti verlässt den AS Rom nach dieser Saison, die Irrationalität der Stadt, der Tifosi und der Presse in der Verteidigung ihres Idols gilt als einer der Gründe dafür. „Totti è la Roma“, war am Sonntagabend vor Anpfiff auf großen Transparenten in der Südkurve zu lesen, Totti ist der AS Rom. Das traf zweifellos zu. Die Frage ist jetzt, was der AS Rom ohne Totti sein wird.

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