Aschenputtel der Serie A

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.10.2016 - Der Serie-A-Verein US Sassuolo hat mit jungen, italienischen Spielern und einem Industrie-Koloss im Rücken Erfolg.

Es ist noch nicht lange her, da war die Kleinstadt Sassuolo vor allem für Anisschnaps, frittierte Gnocchi und als Zentrum der italienischen Fliesenindustrie bekannt. Ein eher unscheinbarer, 41 000 Einwohner fassender Ort, umgeben von anderen schönen italienischen Städten namens Parma, Modena oder Bologna. Inzwischen hat sich diese Sichtweise gewandelt und das ist in erster Linie dem örtlichen Fußballverein zu verdanken. Als eine Art Aschenputtel des calcio wurde US Sassuolo erst ignoriert, dann unterschätzt. Inzwischen wird der Club sogar international bewundert.

Die Geschichte der Unione Sportiva Sassuolo Calcio ist schon bald 100 Jahre alt. Das Kleid des zur Bedeutungslosigkeit verdammten Provinzclubs begann der Verein erst seit 2002 abzustreifen. Damals begann der Unternehmer Giorgio Squinzi seine Investitionen aus der vom Doping verseuchten Welt des Radsports in den Fußball umzuleiten. Anstatt das nach seiner Firma Mapei benannte Radsportteam weiter zu unterstützen, übernahm Squinzi US Sassuolo. Nach vielen Jahren in niederen Spielklassen gelang dem Team 2013 schließlich der Aufstieg in die Serie A.

Squinzi, eigentlich ein Fan des AC Mailand, erwarb damals auch das Fußballstadion von Reggio Emilia und stellte es dem Verein zur Verfügung, der damit nach Juventus Turin und Udinese Calcio der dritte italienische Erstligist mit eigenem Stadion war. In der vergangenen Saison kamen durchschnittlich nur 11 000 Zuschauer zu den Heimspielen, dafür gelang erstmals die Qualifikation für die Europa League. Wenn man Generaldirektor Giovanni Carnevali nach den Gründen für den Erfolg fragt, dann verweist er erst einmal auf den „Weitblick unseres Eigentümers Doktor Squinzi“. Squinzi, der bis Frühsommer für vier Jahre Präsident des italienischen Arbeitgeberverbandes war und einer der größten Industriellen Italiens ist, habe den „kleinen Verein übernommen, um ihn groß zu machen“.  

Wie groß, wird sich erst noch zeigen. Fest steht, dass Squinzis Firma Mapei sich mit Sassuolo auch ein inzwischen europaweit ausstrahlendes Aushängeschild geschaffen hat. Die Verbindung zwischen US Sassuolo und dem Mapei-Konzern, der unter anderem Fliesenkleber und andere chemische Bauprodukte herstellt, ist eng. Präsident des Vereins ist Squinzis Vertrauensmann Carlo Rossi, der bis heute auf der Liste der Mapei-Agenten firmiert und für den Bezirk Bologna-Modena-Parma zuständig ist. „Sassuolo wird wie eine der 78 Firmen der Gruppe Mapei geführt“, sagt Generaldirektor Carnevali.

Mapei ist seit 1978 auch im Ausland aktiv, etwa 6000 der insgesamt rund 8000 Angestellten arbeiten heute außerhalb Italiens, der Konzern macht über zwei Milliarden Euro Umsatz. Seit 2011 steckte Mapei 83 Millionen Euro in den Fußballklub. Sassuolo will sich aber dennoch grundlegend von den anderen Vereinen mit finanzstarken Eigentümern in der Serie A unterscheiden. „Wir legen Wert auf eine gesunde Bilanz und planen langfristig“, sagt Carnevali.

Der Klub hat sich spezialisiert auf junge, italienische Spieler, die nach ein paar Jahren in der Provinz gewinnbringend weiter verkauft werden. In der Serie A mit einem Ausländeranteil von 55 Prozent ist diese Politik eine Ausnahme. Im 26-köpfigen Kader von Sassuolo stehen gerade einmal vier Ausländer, dafür aber viele einheimische Talente. Der Verein ersetzt de facto zu großen Teilen die mangelnde Nachwuchsförderung in Italien. „In einer Gruppe, die vor allem aus einer Nationalität zusammen gesetzt ist, ist es einfacher den Teamgeist zu entwickeln“, erklärt Carnevali. Die Übersichtlichkeit in Sassuolo, der geringe Druck von Medien und Tifosi, der in Städten wie Turin, Mailand, Genua, Rom oder Neapel prägend ist, haben die Förderung junger Talente erleichtert.

So machten sich in Sassuolo Spieler wie Simone Zaza (West Ham United) oder der in diesen Tagen erstmals ins italienische Nationalteam berufene Deutsch-Italiener Nicola Sansone (FC Villareal) einen Namen. Der erst 22 Jahre alte, derzeit verletzte Stürmer Domenico Berardi gilt als eines der größten und am meisten umworbenen Talente des italienischen Fußballs. Mit ihm konnten sich zuletzt Spieler wie Matteo Politano (23), Lorenzo Pellegrini (20) oder Luca Mazzitelli (22) beweisen. „Wir haben den Fußball nicht neu erfunden“, sagt Generaldirektor Carnevali. „Aber wir haben ein paar sehr klare Ideen.“ 

Trainer Eusebio Di Francesco, ein Schüler der Trainerlegende Zdenek Zeman, lässt schnellen, attraktiven Fußball spielen, für den sein junges Team wie prädestiniert wirkt. Nachdem er wegen Erfolglosigkeit im Januar 2014 entlassen worden war, stellte ihn der Verein nur zwei Monate später wieder ein. Die unübliche Entscheidung sollte sich als Glücksgriff erweisen. Di Francesco führte Sassuolo in der vergangenen Saison auf Platz 6, bis heute ist er einer der Garanten für den Erfolg.

Kenner der Serie A halten noch einen anderen Faktor für entscheidend. Eigentümer Squinzi tritt nur selten in Erscheinung und mischt sich kaum in den Alltag von US Sassuolo ein. In der Liga voller geltungsbedürftigen Fußball-Patrone ist auch das ein Alleinstellungsmerkmal.

FacebookTwitterGoogle+FlipboardPinterestLinkedIn