Augsburger Allgemeine, 5.12.2016 - Ministerpräsident Matteo Renzi hat sich beim Verfassungs-Referendum gnadenlos verzockt.

Die Italiener stehen nach der abgelehnten Verfassungsreform und dem Rücktritt von Ministerpräsident Matteo Renzi dumm da. Der oberflächliche Eindruck ist: Das Land will sich seiner verkrusteten Strukturen nicht entledigen, die Italiener wollen gar keine Reformen. Doch dieser Eindruck täuscht. Die Italiener haben vor allem Politiker satt, die sich auf ihre Kosten profilieren. Das Votum vom Sonntag ist zwar einerseits eine klare Absage an die Reformpläne. Die Verfassungsänderung schien auf den ersten Blick eine logische Maßnahme gegen den Stillstand zu sein. Die Änderung barg aber auch das Risiko, vor lauter Effizienz das demokratische und parlamentarische Gleichgewicht hinten an zu stellen. Künftige Regierungen können zwar nicht im Schnelldurchgang regieren. Dafür ist aber auch die Gefahr gebannt, dass Populisten in Zukunft den beschleunigten Staat rasant für ihre Zwecke missbrauchen können. Dies zu verhindern, war die legitime Absicht eines teils der Gegner

der Reform. 60 Prozent der Italiener stimmten mit Nein. Das Ergebnis ist auch ein eindeutiges Misstrauensvotum gegen Matteo Renzi. Renzi, der seine Karriere in einer Spielshow im italienischen Fernsehen begann, hat sich gnadenlos verzockt. Die seit Jahrzehnten vorbereitete Verfassungsreform war bereits von beiden Parlamentskammern in letzter Lesung verabschiedet worden. Sie wäre längst Gesetz, wenn der ehrgeizige Premier nicht aus politischem Kalkül die Volksabstimmung angesetzt hätte. Renzi versprach sich Rückenwind von der sicher geglaubten Zustimmung der Italiener. Die Stimmung hat sich gegen ihn und seine Regierung gewendet. Bei der Suche nach den Verantwortlichen für die möglicherweise dramatische Phase, die Italien nun bevorsteht, steht einer ganz vorne, den man leicht als lauteren, aber gescheiterten Reformer verklärt: Matteo Renzi.

Wiener Zeitung, 4.12.16 - Italien tut sich seit Jahrzehnten schwer mit seinem parlamentarischen System.

Als Ministerpräsident Romano Prodi am 24. Januar 2008 in einer Vertrauensabstimmung im italienischen Senat gestürzt wurde, stießen einige Senatoren der Opposition mit Spumante-Flaschen auf das Ende der Regierung an. Zu sehen waren in der Aula des römischen Palazzo Madama sogar Volksvertreter, die sich demonstrativ Mortadella-Scheiben in den Rachen schoben. „Mortadella“ lautete damals der despektierlich gemeinte Spitzname seiner Kritiker für Prodi. Die Bilder gingen um die Welt, drei Jahre einer erneuten Regierung unter Silvio Berlusconi lagen vor Italien. Die verlorene Vertrauensabstimmung im Senat war einer der Schlüsselmomente der jüngeren Parlamentsgeschichte in Italien. Von dem Moment an, als die zweite von Prodi geführte Regierung nach den gewonnenen Parlamentswahlen im Frühjahr 2006 ins Amt kam, kämpfte sie auch schon um ihr Überleben. Der Grund waren zwei verschiedene Mehrheiten, eine solide im Abgeordnetenhaus und eine zweite, äußerst knappe im Senat. Weil die Regierung aber anders als in anderen europäischen Staaten von beiden Kammern bestätigt und jedes Gesetz von beiden Kammern verabschiedet werden musste, handelte es sich beim Kabinett Prodi II von Beginn an um

eine äußerst wackelige Angelegenheit. Ein zweiter Unsicherheitsfaktor war die Beteiligung von mehr als einem Dutzend Gruppierungen. Teilweise bildeten bis zu 17 Parteien die Regierungskoalition. Das italienische Wahlrecht sah damals die Bildung von Koalitionen vor der Wahl vor, die oft nach der Wahl an erpresserischen Mechanismen scheiterten. Im Fall Prodis, der überraschenderweise Berlusconi und dessen Koalition bei der Wahl übertrumpft hatte, war es eine Handvoll Senatoren verschiedener Kleinparteien, die plötzlich das Lager wechselte. Einer der Wendehälse gestand sogar, drei Millionen Euro für seinen plötzlichen Sinneswandel erhalten zu haben. Silvio Berlusconi wurde deshalb 2015 wegen Korruption in erster Instanz zu drei Jahren Haft verurteilt. Wegen Verjährung wurde das Urteil nie rechtskräftig. Solche in der Vergangenheit gerne als typisch italienisch bezeichneten Zustände sind nur mit dem entsprechenden politischen System möglich. In diesem Fall ergänzten sich auf unglückliche Weise das perfekte Zweikammersystem, nach dem Abgeordnetenhaus und Senat der Regierung das Vertrauen aussprechen und jedes…