Es gibt Menschen, die füllen einen ganzen Saal mit ihrer Persönlichkeit aus. Luigi Ciotti gehört zu ihnen. Wenn er auf dem Podium sitzt, dann warten die Zuhörer meistens nur darauf, dass er endlich das Wort ergreift, der Straßenpriester, der Antimafia-Held, der Furchtlose, Don Ciotti. Er spricht gerne und oft, mit ausladenden Gesten und gewichtigen Worten, die er manchmal mantraartig wiederholt. Ein solcher Satz vom ihm lautet: „Nur das Wir kann Veränderungen und soziale Gerechtigkeit erzeugen.“ Wer Don Ciotti noch nie sprechen gehört hat, der wundert sich über die Verve, mit der dieser Mann seinen Einsatz für eine bessere Welt untermalt. Ciotti ist 71 Jahre alt, fast immer erscheint er im hellblauen Hemd, darüber trägt er einen dunklen Pullover. Im Priesterkragen haben ihn die wenigsten zu Gesicht bekommen. Dieser so gar nicht abgehobene Geistliche stammt aus Turin, ist fast nie zuhause und zweifellos ein Unikat, eine Art Irrwisch im Dienste der Gerechtigkeit. Die Universität Augsburg verleiht Ciotti an diesem Donnerstag den mit 10 000 Euro dotierten Mietek-Pemper-Preis für seine Verdienste um Versöhnung und Völkerverständigung. Es gibt zwei Schlüsselmomente in seinem Leben. Zum Einen ist da das Zweite Vatikanische Konzil, das 1965
zu Ende ging. Ciotti war damals 20 Jahre alt und fasziniert von einer Kirche, die ihre Gläubigen nicht mehr nur mit strengen Vorschriften konfrontierte, sondern ihnen das Streben nach Erneuerung gestattete. Viele geistliche Bewegungen entstanden in Folge des Konzils, auch der junge Ciotti gründete eine Gruppe, die sich später den Namen „Abel“ gab, nach dem von seinem Bruder Kain aus Neid erschlagenen Sohn Adams und Evas aus dem Alten Testament. In Abel erkannten Ciotti und seine Mitstreiter das Sinnbild des hilflosen Menschen. Im „Gruppo Abele“ kümmerten sich die jungen Katholiken deshalb um die Resozialisierung von Gefangenen und erstmals in Italien um HIV-Kranke. Als der wenig linientreue Turiner Kardinal Michele Pellegrino den 27-jährigen Ciotti 1972 zum Priester weihte, vertraute er ihm nicht etwa eine gewöhnliche Pfarrei irgendwo im Piemont an. Ciottis Pfarrei sei die Straße, sagte der Kardinal. Ciotti und seine Mitstreiter kümmerten sich um verzweifelte Existenzen, um Drogensüchtige, später…