Benito Mussolini hätte sich diesen Ort nur sieben Jahrzehnte nach seinem Tod wohl anders vorgestellt. In den faschistoiden Mosaiken vor dem Foro Italico in Rom fehlen viele Steine, die Marmorplatten am Boden sind zerborsten. Glasscherben und Kronkorken säumen den Obelisken, der einst als antikisierendes Herrschaftssymbol des faschistischen Regimes am Rand der italienischen Hauptstadt aufgestellt worden war. Nur noch die Inschrift prangt ebenso provokant wie selbstverständlich auf dem knapp 18 Meter hohen und 300 Tonnen schweren Monument am Tiber: Mussolini Dux steht da in Großbuchstaben, Führer Mussolini.
Rom hat einen nonchalanten Umgang mit seiner Vergangenheit. Besonders für Neuankömmlinge ist es verstörend, dass das faschistische Regime auch 70 Jahre nach seinem Zusammenbruch so allgegenwärtig ist in der Stadt. Ebenso monumental wie unwirklich wirken etwa die Gebäude und Straßenzüge im ab 1938 für die Weltausstellung konzipierten EUR-Viertel im Süden. Im Norden steht das ab 1928 errichtete Foro Mussolini, eine überdimensionale Sportanlage, die heute Foro Italico heißt und immer noch als Sportstätte dient, etwa für Fußballspiele und ein Tennisturnier. Die architektonisch durchaus bedeutsamen Stätten des Faschismus gehören in Rom zum Stadtbild. Bis heute fügen sie sich unkommentiert in den Alltag ein.
Diese Besonderheit der Römer im Umgang mit der Vergangenheit sticht auch jetzt wieder ins Auge, da zwei Altphilologen aus den Niederlanden und Deutschland eine Aufsehen erregende Studie veröffentlicht haben. Mit „The Codex Fori Mussolini – A Latin Text of Italian Fascism“ (Bloomsbury) interpretieren die beiden Altertumswissenschaftler Han Lamers und Bettina Reitz-Joosse eine in Vergessenheit geratene Propaganda-Botschaft in den Fundamenten des Mussolini-Obelisken. Die Schrift ist auf Englisch übersetzt und kommentiert herausgegeben. Jahrzehntelang war keine Rede von der kleinen Metallkiste im Mussolini-Obelisken, in der sich seit 1932 ein Pergament mit einer Art faschistischem Testament versteckt. Lamers und Reitz-Joosse haben den mysteriösen Schatz gleichsam gehoben, ohne ihn je in Händen gehalten zu haben.
„Es ist höchstwahrscheinlich, dass sich der Text dort unten befindet“, sagt Altphilologe Lamers, der an der Humboldt-Universität Berlin und an der Katholischen Universität Leuven in Belgien tätig ist. In verschiedenen Schriften gibt es Anhaltspunkte für die Existenz des Textes, die Altertumsforscher fanden in den Archiven und Bibliotheken schließlich drei Versionen des „Codex fori Mussolini“ aus den 1930er Jahren. Nach ihrer Meinung sollte der vom Altphilologen Aurelio Giuseppe Amatucci im Namen des Regimes verfasste Codex als programmatisches Testament für die Nachwelt nach dem Zusammenbruch des faschistischen Regimes in Italien dienen. Lamers und Reitz-Joosse zeigten sich vor allem von zwei Faktoren fasziniert. Zum Einen, dass der Text auf dem Pergament auf Lateinisch verfasst ist, zum anderen, dass man ihn in einer Kiste unter den Fundamenten des Obelisken vergrub.
Offenbar, so die Forscher, wollte man ein Testament für spätere Zeitalter hinterlassen. Latein habe im italienischen Faschismus als Sprache der Ewigkeit gegolten. Dass der Text unterirdisch und unzugänglich aufbewahrt werde, lege ein bislang unbekanntes Selbstverständnis des Faschismus offen: „Man ging ganz offensichtlich davon aus, dass auch der Faschismus eines Tages enden und der Mussolini-Obelisk zerstört werden würde“, sagt Lamers. Sonst hätte eine unter dem Monument vergrabene Kiste mit einem lateinischen Text wenig Sinn. In Anlehnung an antike Riten sind dem Text offenbar auch Goldmünzen beigelegt, die den Duce als Quasi-Herkules in Löwen-Fell zeigen.
Den Forschern zufolge ist der Codex in drei Teile aufgeteilt. Im ersten wird der Aufstieg des italienischen Faschismus nach dem Ersten Weltkrieg ideologisch aufbereitet und Mussolini als eine Art Halbgott und Nachfolger römischer Kaiser verklärt, der Italien wieder zu alter Größe führe. Im zweiten Teil geht es um die Bedeutung der faschistischen Jugendorganisation bei der Bildung der italienischen Heranwachsenden, der Text schließt mit Beschreibungen von Transport und Aufbau des 300 Tonnen schweren Obelisken. „Wir wollen mit unserer Arbeit das Dokument in den historischen Kontext setzen und die ideologischen Manipulationsversuche wie Mussolinis Verherrlichung analysieren“, sagt Reitz-Joosse von der Universität Groningen. Über die Gefahr, mit der ideellen Bergung des Codex auch die Neugier neofaschistischer Nostalgiker zu wecken, sagen die Forscher: „Dessen sind wir uns bewusst, aber die Wissenschaft muss diese manipulativen Strategien erforschen und erklären.“
Was bleibt, ist die Frage über den richtigen Umgang mit dem historischen Erbe. Forderungen, den Obelisken oder zumindest den verherrlichenden Mussolini-Schriftzug zu vernichten, gab es immer wieder. Vergangenes Jahr etwa schlug die Präsidentin des italienischen Abgeordnetenhauses Laura Boldrini die Löschung der Buchstaben auf dem Obelisken vor und erntete einen Sturm der Entrüstung. Schautafeln vor Ort, die Roms faschistische Städten historisch einordnen, sucht man bis heute vergeblich. Dafür bereiten sich in diesen Tagen die Betreiber der römischen Zeitungskioske bereits für den Winter vor. Dann haben sie ihre Mussolini-Jahreskalender wieder im Sortiment. Wie mehrere Kioskbetreiber in den vergangenen Tagen bestätigten, verkaufen sich die Kalender ausgezeichnet.