Drei Jahre lang hat es gedauert, bis der Papst sein Machtwort zum Thema Ehe und Sexualität vorgelegt hat. Das nachsynodale Schreiben Amoris Laetitia – Über die Liebe in der Familie ist ein lehramtlicher, 300 Seiten langer Text, der vordergründig wenig konkret ist und in dieser Beliebigkeit Enttäuschungen hervorrufen wird. Keine Zulassung wiederverheirateter Geschiedener zur Kommunion, die aber auch nicht ausgeschlossen wird. Die Frage, die die Grundfesten der katholischen Morallehre trifft, war unter den Bischöfen auf den beiden Synoden der vergangenen Jahre die umstrittenste. Schon gar nicht skizziert der Papst eine Willkommenskultur für Homosexuelle in der Kirche, sondern wiederholt nur bequem das, was der Katechismus zum Thema Homosexualität zu sagen hat.
Doch Amoris Laetitia hat es in sich – und das nicht nur wegen der Absätze zu Sexualerziehung, zu „sicherem Sex“ oder zu den fast schon erfrischenden Passagen zur Erotik in der Ehe. Es gibt Priester in Rom, die behaupten, sich erstmals nicht mehr zu schämen, wenn der Chef auf dem Stuhl Petri beim Thema Sexualität in die Details geht. Hat sich die katholische Kirche unter Franziskus entkrampft? Nein, aber der Papst schlägt beim Thema Sex ein neues Kapitel auf.
Das Schreiben ist der vorläufige Schlusspunkt eines drei Jahre dauernden Prozesses, in dem sich die katholische Kirche mit Franziskus mühsam auf die Menschen zuzubewegen versucht. Zuerst machte der Papst die Kluft zwischen Lehre und Wirklichkeit mit einer Umfrage unter den Gläubigen in der ganzen Welt sichtbar. Anschließend ließ Franziskus die Bischöfe auf zwei Synoden zum Thema diskutieren, dann forderten die überforderten Hirten ein definitives Wort vom Papst, das dieser nie liefern wollte.
Vielfalt statt Einheit
Auch im nachsynodalen Schreiben legt sich Franziskus nicht fest. Stattdessen öffnet er seiner Kirche bisher nicht dagewesene Räume. Wenn der Papst feststellt, dass nicht jede Diskussion über die Doktrin einer lehramtlichen Klärung bedarf, bedeutet das eine nur schwer wieder rückgängig zu machende Wende in der Haltung Roms. Galt dem Vatikan bislang die Einheit von Lehre und Seelsorge als höchstes Gut, so hat Franziskus nun der in der Praxis längst existierenden Vielfalt die theologische Legitimation erteilt.
Die vom Papst angekündigte „heilsame Dezentralisierung“ wird so erstmals Realität. Fortan haben die Bischofskonferenzen die Zügel in der Hand, auch wenn es um die praktische Auslegung moralischer Normen auf dem Gebiet der Sexualität geht. Die als besonders konservativ bekannten afrikanischen oder polnischen Bischöfe können künftig ganz andere Schlussfolgerungen aus den Geboten ziehen als beispielsweise die deutschen Bischöfe. Als etwa die Diözese Freiburg vor drei Jahren eine umstrittene Handreichung zum Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen erließ, wurde diese von der Glaubenskongregation kassiert. Das ist so künftig nicht mehr möglich.
Das Schreiben Über die Liebe in der Familie bedeutet eine neue, ungewohnte Freiheit für die Kirche, mit der sie erst einmal zurecht kommen muss. Bislang mussten Bischöfe, die aus der Reihe scherten, eine Maßregelung aus Rom erwarten. Diese Zeiten sind mit Amoris Laetitia nun auch auf dem umstrittenen Gebiet der Sexualmoral vorbei.
Aufwertung des Gewissens
Dennoch hält auch Franziskus an einigen konservativen Fixpunkten fest, er verurteilt weiterhin pauschal Abtreibung, die Gender-Theorie oder die Homo-Ehe. Seinen fragwürdigen Status als Ikone der säkularisierten Gesellschaft wird dies weiter demontieren. Dem einzelnen Gläubigen räumt der Papst aber wesentlich mehr Spielraum bei seinen Entscheidungen ein. Wie ein roter Faden zieht sich die Aufwertung des menschlichen Gewissens durch das Schreiben. Franziskus betont die Rolle des Gewissens, etwa wenn es um die Entscheidung zur Empfängnisverhütung oder den Zugang zur Kommunion für wiederverheiratete Geschiedene geht. Auch hier sind künftig die Weichen gestellt: Die Gläubigen sehen sich mit den strengen Regeln konfrontiert, die letzte Entscheidung treffen sie richtigerweise in ihrem Inneren.
Für den konservativen Flügel in der katholischen Kirche ist Amoris Laetitia ein Albtraum, da die Kirchenführung ausdrücklich ihre Eigenschaft als letzte Kontrollinstanz in Sachen Sex aus der Hand gibt. Tatsächlich deutet sich ein Dilemma für die Kirche an: Franziskus hebt weiterhin die Einheit von Lehre und Praxis hervor, lässt aber gleichzeitig den verschiedenen Interpretationen der Lehre freien Lauf. Das Zerrbild von Normen und ihrer Befolgung könnte so künftig noch groteskere Formen annehmen. Die ehrliche Konsequenz aus Amoris Laetitia wäre deshalb eine Änderung der Lehre, also des Gebots der Unauflöslichkeit der Ehe. Zu diesem Wagnis, das ein Schisma in der Kirche provozieren würde, fehlt aber auch diesem Papst der Mut.