ROM. Es gibt ein jüngeres Foto von Sami Khedira, auf dem sieht der Fußballer nun wirklich nicht wie ein Fußballer aus. Khedira trägt eine modische Strickjacke, die man heutzutage als Cardigan bezeichnet, er sitzt an einem polierten Holztisch, vor ihm ein Laptop-Computer. In der linken Hand hält der 28-Jährige ein Notizbuch, in das er konzentriert blickt, rechts einen Stift, mit dem er sich Notizen macht. Khedira sieht auf diesem Bild eher aus wie Joachim Löw oder Pep Guardiola. Also wie einer, der über Fußball nachdenkt, und nicht wie jemand, der mit dem Fuß gegen den Ball tritt. Ein Fußball-Hirn, kein Fußball-Spieler. Khedira hat dieses Bild selbst veröffentlicht, man macht das ja heutzutage so in den sozialen Netzwerken. „Spiele vorzubereiten bedeutet mehr, als hart im Mannschaftstraining zu arbeiten. Es bedeutet, Statistiken lesen, Taktik zu analysieren und so weiter“, erklärt der Mittelfeldspieler seine konzentrierte Pose. Ein unbekannter „Follower“ prognostizierte dem Studiosus eine glänzende Zukunft als Trainer, dabei hat der Fußballprofi natürlich immer noch einiges als Akteur vor. Weltmeister Khedira will im Juli mit der deutschen Nationalmannschaft Europameister werden und mit seinem Verein Juventus Turin wieder ganz nach vorne kommen. Im Februar steht das Achtelfinale in der Champions League gegen den FC Bayern an, die Aufholjagd der Turiner in der Serie A ist beinahe abgeschlossen. Vor dem Auswärtsspiel an diesem Sonntag gegen Udinese Calcio trennen den italienischen Rekordmeister nur noch zwei Punkte vom Tabellenführer SSC Neapel. Khedira, das Fußball-Hirn. Das Foto ist eine passende Synthese für die Bedeutung des Schwaben bei Juventus Turin. Vergangenes Wochenende erzielte Khedira sogar einen Treffer beim 2:1-Auswärtssieg bei Sampdoria Genua, es war Juves neunter Sieg in Folge und Khediras zweiter Treffer im Juve-Trikot. Vom Mittelfeldspieler mit Talent zum „Bomber“ schrieben die italienischen Zeitungen. Als „beeindruckend und mächtig“ wertete der „Corriere dello Sport“ das Spiel des Deutschen. Doch die Lobeshymnen täuschen über die Schwierigkeiten hinweg, mit denen Khedira bislang in Italien konfrontiert war. Mehrere Verletzungen warfen den Spieler immer wieder aus der Bahn, wegen ganz offensichtlicher Konditionsrückstände lästerte die italienische Presse nur Tage zuvor über Khediras laue Vorstellung beim 3:0-Sieg gegen Hellas Verona. „Er hat keinen Ball gesehen“, verfügte „La Stampa“. „La Repubblica“ hatte in ihm gar einen „Spaziergänger“ beobachtet. Die wankelmütigen Urteile der Presse gehören insbesondere in Italien zum Geschäft. Aber angesichts der Tatsache, dass Juventus in den zwölf Spielen, in denen Khedira zum Einsatz kam, nie als Verlierer vom Platz ging, stellt sich doch die Frage, wer wen eigentlich dringender benötigt: Brauchen die Italiener nach dem Abgang der drei Säulen Andrea Pirlo, Arturo Vidal und Carlos Tevez unbedingt den Stabilisator Khedira? Oder ist der verletzungsanfällige und konditionell hinterherhinkende Deutsche auf möglichst viele Einsätze in seiner Mannschaft angewiesen, um in der entscheidenden Phase der Saison, also in fünf Wochen im Hinspiel gegen den FC Bayern, endlich in Bestform auftreten zu können? „Ich bin in Italien, in Turin und bei Juve voll angekommen“, ließ Khedira zuletzt in einem Interview wissen. Die mühevolle Eingewöhnungsphase scheint also abgeschlossen zu sein. Fest steht, dass der italienische Meister zuletzt auch ohne Khedira bestens auskam. Die vergangenen neun Spiele in Folge hat Juventus gewonnen, vier davon ohne den Weltmeister. Im Turiner Stadtderby Ende Oktober, bei dem nach mehreren katastrophalen Ergebnissen der Aufschwung des Serienmeisters begann, stand der Mann mit der Nummer sechs gerade einmal elf Minuten auf dem Platz, dann zwickte es ihn im Oberschenkel. „Schon wieder Khedira!“, motzte die Turiner Zeitung „Tuttosport“. Die Symbiose zwischen Khedira und Juventus lässt sich besser verstehen, wenn man die Spiele ohne Khedira näher betrachtet. Dann lief beim Meister anstelle Khediras meist ein zuverlässiger und erst 22 Jahre alter Kämpfer namens Stefano Sturaro auf, der zahlreiche Talente hat, aber eben (noch) kein Fußball-Hirn ist. Auch wenn Khedira zuweilen so unauffällig spielt, dass man ihn angesichts der Kunststücke seiner Mitspieler Paulo Dybala oder Paul Pogba beinahe vergisst, blickt er weit über die eigene Position hinaus. Erkundigt man sich bei eingefleischten Juventus-Anhängern, geraten diese ins Schwärmen über Persönlichkeit, spielerische Intelligenz und Effektivität des Deutschen, der stets zum rechten Zeitpunkt am richtigen Ort zu stehen scheint, kaum einen Fehler begeht und die Mannschaft taktisch wie wenige seiner Mitspieler im Griff hat. Den einen oder anderen Einsatz als schwächelnder „Spaziergänger“ wird ihm das Turiner Publikum deshalb gewiss nachsehen
Das Fußball-Hirn
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.1.2016 Sami Khedira tut Juventus gut. Er ist zwar nicht immer fit, aber meist an der richtigen Stelle.