Er hat mich geduzt

Christ&Welt / Die Zeit, 14.1.2016 In einem langen Interview, das diese Woche als Buch in 84 Ländern gleichzeitig erscheint, erklärt Papst Franziskus der Welt die Barmherzigkeit. Der Vatikan-Experte Andrea Tornielli hat es geführt.

Wie kamen Sie auf die Idee, ein Interview-Buch mit Papst Franziskus zu machen?

Andrea Tornielli: Als ich im März 2015 in der Messe war, in der Papst Franziskus ein Heiliges Jahr der Barmherzigkeit ankündigte, dachte ich mir, es wäre schön, ihm lauter Fragen zu diesem Thema stellen zu können. Ich hatte ihn schon zweimal für »La Stampa« interviewt sowie für ein Buch mit dem Titel »Diese Wirtschaft tötet«. Mir ging es nicht um alle möglichen Fragen, die Franziskus in Interviews oder auf seinen Pressekonferenzen bei den Auslandsreisen beantwortet, das wäre nichts Neues gewesen. Das Gespräch sollte sich nur um das Thema Barmherzigkeit drehen. Erstens läuft gerade das Heilige Jahr der Barmherzigkeit, und zudem hat er das Thema von Beginn seines Pontifikats an als zentral gekennzeichnet. Barmherzigkeit ist das Kernthema seines Pontifikats.

Wie kam es dann zu dem Interview?
Tornielli: Ich habe ihm geschrieben. Er hat erst gezögert. Nachdem ich ihm dann aber einen Katalog von etwa 30 Fragen und möglichen Themen zukommen ließ, sagte er zu. Im Wesentlichen kam der Stoff für das Buch im Juli 2015 bei einem einzigen Treffen zusammen. Anschließend gab es einen längeren E-Mail-Wechsel und ein paar Telefonate mit ihm persönlich, um die Antworten zu korrigieren.

Wo genau fand das Gespräch statt?
Tornielli: In seiner Wohnung im Gästehaus Santa Marta. In der Suite, in der er als frisch gewählter Papst eigentlich nur ein paar Tage bleiben sollte und in der er heute noch wohnt. Die Wohnung besteht eigentlich nur aus Schlafzimmer, Arbeitszimmer und Wohnzimmer. Ich habe nur das Wohnzimmer gesehen, in dem wir saßen. Ein niedriger Tisch, zwei Sessel, ein kleines Sofa und nur wir zwei. Ich auf einem der Sessel, er auf dem Sofa.

Wie lief das Treffen ab?
Tornielli: Er hatte die Bibel und die Konkordanz der Kirchenväter vor sich liegen, er hatte einige Zitate vorbereitet. Für mich war das eine einmalige Gelegenheit. Ich hatte nur einen kleinen Block mit den Fragen dabei und drei Aufnahmegeräte, zur Sicherheit: mein Smartphone, einen Digitalrekorder und ein analoges Aufnahmegerät. Als Franziskus sah, dass ich weder Block noch Kuli dabeihatte, fragte er: »Du hast nichts zum Schreiben dabei?« Er wollte aufstehen, um mir Stift und Papier zu holen. Aber das war gar nicht nötig. Nach ein paar Minuten sagte er mir, ich könnte ruhig mein Jackett ausziehen. Das zeugt von seiner Aufmerksamkeit für sein Gegenüber, wer auch immer das ist.

Sie haben sich geduzt?
Tornielli: Er hat mich geduzt. Ich sieze ihn natürlich. Wir kennen uns schon aus der Zeit, als er noch Erzbischof von Buenos Aires war. Freunde von mir waren seit Längerem mit ihm bekannt, über sie habe ich Bergoglio kennengelernt. Er pflegt Freundschaften sehr. Wenn er nach Rom kam, trafen wir uns oft alle zusammen, ganz informell. Ich sagte immer »Sie« zu ihm, er hat mich schon damals geduzt.

Wenn Sie Jorge Bergoglio schon länger kannten, ahnten Sie dann, was nach seiner Wahl zum Papst auf die katholische Kirche zukommen würde? Für die meisten war er ja ein unbeschriebenes Blatt.
Tornielli: Wer seine Äußerungen als Erzbischof verfolgt hatte, der konnte schon einige Linien ahnen. Vieles war da schon vorgezeichnet, aber natürlich nicht alles.

Franziskus legt bekanntlich wenig Wert auf Etikette. Wie haben Sie ihn angesprochen?
Tornielli: Bei öffentlichen Anlässen spreche ich ihn mit »Heiliger Vater« an. Im privateren Rahmen wie beim Interview nenne ich ihn einfach »padre«, »Vater«.

Wurde das Manuskript vom Vatikan genehmigt?
Tornielli: Ich weiß nicht, aber ich glaube eigentlich nicht. Er selbst hat die Antworten autorisiert, das war seine Angelegenheit. Es handelt sich schließlich um ein Interview und nicht um lehramtliche Äußerungen.

Das einzige Thema des Buches ist die Barmherzigkeit. Sie haben aber doch gewiss auch ein paar andere Aspekte angesprochen?
Tornielli: Ganz ehrlich, nein. Wir haben wirklich nur über das Thema Barmherzigkeit gesprochen. Ich hatte ihn ja schon mehrfach zu anderen Fragen interviewt und war bei allen Reisen und Pressekonferenzen dabei.

Hat Sie ein bestimmter Aspekt in dem Gespräch besonders beeindruckt?
Tornielli: Ich finde, aus dem Buch spricht sein Anliegen als Seelsorger. Ich habe gemerkt, wie sehr ihm die Barmherzigkeit wirklich am Herzen liegt. Ich habe das Thema insgesamt besser und tiefer verstanden, die Botschaft des Papstes. Sie lautet: Gott sucht alle möglichen Wege, um sich uns zu nähern. Er sucht jede Ritze und jeden noch so kleinen Spalt, um dort hineinzuschlüpfen und uns entgegenzukommen. Dieser Aspekt hat mich in dem Gespräch am meisten beeindruckt.

Bei der Buchvorstellung in Rom war auch der italienische Komiker und Oscar-Preissträger Roberto Benigni eingeladen. Warum?
Tornielli: Ich wollte eine Präsentation, die ein bisschen aus dem Rahmen fällt. Benigni hatte im italienischen Fernsehen eine Satiresendung über die Zehn Gebote gemacht. Papst Franziskus sah den Anfang der Sendung. Weil sie ihm gefiel, gratulierte er Benigni anschließend telefonisch. In seiner Predigt am 31. Dezember 2014 zitiert der Papst Benigni sogar als »großen Künstler Italiens«. Das war die Vorgeschichte.

Papst Franziskus sagte in einem Interview, dass er den Eindruck habe, sein Pontifikat werde eher kurz sein. Hat sich dieser Eindruck im Gespräch bestätigt?
Tornielli: Er ist sich natürlich bewusst, dass er mit 79 Jahren ein gewisses Alter hat. Dabei ist sein Kalender so voll, als sei er erst 60. Schon im Hinblick auf sein Alter wird das Pontifikat nicht so lange sein. Bei den Beratungen der Kardinäle vor dem Konklave soll ein Teilnehmer gesagt haben, vier Jahre Bergoglio würden genügen, um der Kirche zu helfen. Ich denke, sein Hinweis auf ein möglicherweise kurzes Pontifikat war eher dem Aberglauben oder seinem Sinn für die Realität geschuldet.

Kommt ein Rücktritt für Franziskus infrage?
Tornielli: Er hat es selbst gesagt. Benedikt XVI. habe mit seinem Schritt eine Tür geöffnet. Ich kann mir aber kaum vorstellen, dass Franziskus noch zu Lebzeiten des emeritierten Papstes zurücktritt. Dann hätten wir drei Päpste! Ich weiß nicht. Jedenfalls ist ein Rücktritt für ihn nicht undenkbar. Er wird weitermachen, solange er die Kraft hat.

Hatten Sie den Eindruck, der Papst ist enttäuscht über Widerstände und den langsamen Fortgang seiner Reformen?
Tornielli: Nein. Mein Eindruck ist der eines großen Realisten. Franziskus ist sich völlig im Klaren darüber, dass man die Dinge nicht übers Knie brechen kann. Er selbst sagt, die Zeit sei mehr wert als der Raum. Entscheidend für ihn ist, Prozesse in Gang zu bringen, ohne zu wissen, wie und wann sie enden. Das Wichtigste sind für ihn auch gar nicht die strukturellen Reformen etwa der Kurie, sondern die Reform des Herzens. Die Herzen, der Blick der Menschen sind das Essenzielle für ihn. Deshalb stecken die wichtigsten Reformanliegen in seinen Predigten.

Setzen Franziskus die Widerstände aus dem Inneren der Kirche zu?
Tornielli: In den vergangenen 50 Jahren gab es immer heftigste Widerstände aus der Kirche gegen den Papst, auch aus der Kurie. Franziskus macht mir nicht den Eindruck eines Menschen, der sich von diesen Widerständen bremsen oder beeinflussen lässt. Er schläft einen ruhigen Schlaf. Als Mann des Glaubens weiß er, dass Gott die Kirche führt. Paul VI. hat ein paar Jahre nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil, das viel Streit auslöste, gesagt: »Nur Gott allein kann den Sturm beruhigen.«

Kritiker bemängeln, dass Franziskus das Thema Barmherzigkeit über die Maßen hervorhebe, als ob die Barmherzigkeit in der Vergangenheit keine Rolle gespielt hätte …
Tornielli: Das verstehe ich überhaupt nicht. Es geht doch nicht darum, eine Botschaft neu zu präsentieren. Die christliche Botschaft lebt ständig weiter und wird in den jeweiligen, wechselnden Umständen gelebt. Alle Päpste mit ihren verschiedenen Geschichten und Charakteren haben verschiedene Aspekte in der Gesamtheit des christlichen Glaubens hervorgehoben. Mich beunruhigt eher, dass es Leute gibt, die fürchten, dass es zu viel Barmherzigkeit gibt. Aber es kann nie genug Barmherzigkeit geben! Es wirkt auf mich manchmal so, als solle verhindert werden, dass die Botschaft von Franziskus durchdringt. Auch für seine Vorgänger war Barmherzigkeit zentral, Franziskus steht da in einer Tradition. Das ändert aber nichts daran, dass sich die Tradition vertieft und mit neuen Worten und neuer Emphase präsentiert wird, weil sich die Zeiten geändert haben.

Sie meinen, die Botschaft des Papstes wird boykottiert? Haben Sie diesen Aspekt bei Franziskus angesprochen?
Tornielli: Ich habe ihn nach dem Verhältnis von Barmherzigkeit und Doktrin gefragt. Franziskus sagt: Barmherzigkeit ist wahr. Er sieht unter diesem Gesichtspunkt also keinen Kontrast. Manche fürchten, dass diese Botschaft der Barmherzigkeit die Grenzen zwischen Gut und Böse auflöst, dass es keine Sünde mehr gibt und dass alles in Ordnung, vergeben und abgewaschen ist. Der Papst sagt: Alles wird vergeben, wenn man sich dazu bekennt, die Vergebung nötig zu haben, wenn man sich als Sünder bekennt. Er will, dass so viele Menschen wie möglich die Liebe Gottes spüren.

Eine journalistische Regel lautet, sich nicht mit dem Objekt der Berichterstattung gemein zu machen. Haben Sie sich bei der Arbeit an dem Buch die Frage Ihrer professionellen Distanz zu Franziskus gestellt?
Tornielli: Nein, diese Frage habe ich mir nie gestellt. Wichtig war mir, dass meine Fragen korrekt waren. Mir war wichtig, dass der Kern seiner Botschaft deutlich wird. Ich verheimliche niemandem gegenüber, dass ich ein gläubiger Katholik bin. Aber die Frage des richtigen Abstands kam bei mir nicht auf.

Sie sind sich aber Ihrer großen Nähe zu Papst Franziskus bewusst?
Tornielli: Ja natürlich, das kann ich absolut nicht leugnen.

Andrea Tornielli, 51, ist einer der renommiertesten Vatikanberichterstatter. Seit 2011 ist er Korrespondent der Turiner Tageszeitung »La Stampa«. Torniellis römische Wohnung liegt in unmittelbarer Nähe zweier Kollegen, die mit Jorge Mario Bergoglio befreundet sind. Über sie lernte Tornielli den späteren Papst Franziskus kennen. Die Verbindung hält bis heute.
Papst Franziskus: Der Name Gottes ist Barmherzigkeit. Ein Gespräch mit Andrea Tornielli. Kösel Verlag, 2016.

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