Neapels zweiter argentinischer Traum

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.12.2015

Mittelstürmer Higuaín schießt den süditalienischen Traditionsklub 25 Jahre nach Maradona wieder an die Tabellenspitze. Trainer Sarri hat dem SSC modernen Direkt- und Tempofußball verordnet.

Schrecksekunden mit Gonzalo Higuaín sind im internationalen Fußball nichts Neues. Manuel Neuer zum Beispiel wird noch Erinnerungen an den Stürmer aus Argentinien haben. Im WM-Finale 2014 setzte Higuaín nach 20 Minuten eine unfreiwillige Vorlage von Toni Kroos knapp neben das Tor, in der zweiten Halbzeit rammte der Torwart den Angreifer ebenso gewagt wie rüde aus dem Strafraum. Inter Mailands slowenischer Keeper Samir Handanovic hatte am Montagabend überhaupt keine Zeit, sich Gedanken über die Gefährlichkeit des 27 Jahre alten Stürmers vom SSC Neapel zu machen, da lag der Ball schon im Kasten. 64 Sekunden hatte es gedauert, bis Higuaín seinen Verein im Spitzenspiel der Serie A zwischen dem SSC Neapel und Inter Mailand mit 1:0 in Führung brachte.

„Higuaín, Higuaín“, summt man seither am Vesuv und weit darüber hinaus zum Refrain eines ulkigen Songs von Massimo Cannizzaro über den Stürmer, der einen nicht unerheblichen Teil Süditaliens in Atem hält. Denn Higuaín, der bis 2013 sechs Jahre lang für Real Madrid stürmte, hat in Neapel jahrzehntealte und nie ganz verstaubte Hoffnungen geweckt. Die in der Vergangenheit dominierenden Teams aus Norditalien schwächeln, das ist die Chance für den sich stets im Nachteil wähnenden italienischen Süden. Der SSC Neapel ist nach dem 2:1-Sieg gegen Inter Mailand Tabellenführer in einer Liga, die ihre dominierende Spitzenmannschaft auch nach 14 Spieltagen noch sucht.

Das ist unter normalen Verhältnissen nicht mehr als ein freudiges Ereignis für die Betroffenen. Im überdrehten Neapel hingegen feuerten sie nach dem Schlusspfiff Feuerwerkskörper ab und veranstalteten Hupkonzerte. Exakt 25 Jahre ist es her, dass der SSC Neapel alleine an der Tabellenspitze der Serie A stand. Damals war ein Trio mit dem Spitznamen Ma-gi-ca bestehend aus Diego Armando Maradona, Bruno Giordano und Careca bestimmend. Heute liegt Neapel ihm ganz alleine zu Füßen: El Pipita, dem Pfeifchen. Gonzalo Higuaín.

Seinen kuriosen Spitznamen verdankt Higuaín seinem Vater Jorge, der als Fußballspieler wegen einer hervorstechenden Nase in Argentinien El Pipa, die Pfeife, gerufen wurde. Von Pfeifen im verächtlichen Sinne kann in Neapel allerdings nicht die Rede sein. „Higuaín ist der König“, titelte der „Corriere dello Sport“. Für das Lokalblatt „Il Mattino“ war der Stürmer einfach nur „stratosphärisch“. Und „La Repubblica“ schrieb den Erfolg dem zweifachen Torschützen höchstpersönlich zu: „Higuaín 2 – Inter 1“. Ganz falsch war das nicht, so beeindruckend urgewaltig muteten die beiden Treffer des Argentiniers an. Beim zweiten Tor lief der Stürmer der bislang besten Innenverteidigung der Serie A einfach davon und setzte den Ball unhaltbar aus zwölf Metern in den Winkel (62.).

Die neapolitanische Götterverehrung hat allerdings auch ihre Schattenseiten. So war Higuaín in der vergangenen Saison durchaus umstritten, weil er sich offenbar ausgiebig auf Partys und Luxusyachten vergnügte und am Sonntag des Öfteren Elfmeter verschoss. Der Absprung nach zwei Jahren in Neapel stand kurz bevor. Vater Jorge rang dem Napoli-Präsidenten und extrovertierten Filmunternehmer Aurelio De Laurentiis in einer schwülen venezianischen Sommernacht dann eine Gehaltsaufbesserung auf insgesamt 5,5 Millionen Euro ab. Im Gegenzug verlängerte Higuaín für ein weiteres Jahr bis 2018.

Was die übergeschnappte Stimmung in der Stadt angeht, bemühte sich Trainer Maurizio Sarri um Bodenhaftung. Er wollte der Mannschaft am Dienstag zunächst einmal eine „Standpauke“ halten, weil sie das Spiel nach einer 2:0-Führung noch fahrlässig aus der Hand zu geben drohte. Inter Mailand spielte nach einer Gelb-Roten Karte für Yuto Nagatomo in der 44. Minute eine Halbzeit lang in Unterzahl. Dennoch gelang Adem Ljajic der Treffer zum 1:2 (67.). In der vierten Minute der Nachspielzeit rettete für Neapel zweimal der Pfosten. „Mit 31 Punkten steigt man ab“, mahnte Trainer Sarri humorlos, als er auf die Titelchancen abgesprochen wurde.

Higuain

Dennoch ist der Toskaner der eigentliche Macher der Napoli-Begeisterung. In Neapel geboren, wuchs Sarri in der Umgebung von Florenz auf. Vormittags arbeitete der 56-Jährige als Bankangestellter, nachmittags trainierte er Fußballteams in der Provinz und machte in den vergangenen Jahren als Chefcoach des FC Empoli auf sich aufmerksam. Nach dem Rauswurf von Rafael Benitez verpflichtete ihn der SSC Neapel, wo Sarri seinen aufwendigen Direkt- und Tempofußball weiterverfolgt, auch bei Großereignissen wie gegen Inter strikt im Trainingsanzug. Stilistisch ließen seine Spieler den vornehmen Inter-Trainer Roberto Mancini und dessen Team aber alt aussehen. Die Partie wirkte phasenweise wie schöner neuer italienischer Calcio gegen hässlichen alten Catenaccio.

Eine Zeitenwende im italienischen Fußball bedeutet das aber noch lange nicht, schon gar nicht, was das Nord-Süd-Gefälle angeht. Der schon abgeschlagene Serienmeister Juventus Turin hat sich Stück für Stück nach vorne gepirscht und liegt bereits wieder auf Platz fünf der Tabelle. „Wir dürfen ruhig träumen“, sagte Gonzalo Higuaín nach dem Triumph. Pessimisten befürchten ein böses Erwachen.

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