Friedlich liegt das Städtchen Sciacca an der Südküste Siziliens. Wie weiße Schachteln stapeln sich die Häuser der Altstadt über dem Fischer-Hafen. Johann Wolfgang von Goethe und Federico Fellini schwärmten von diesem Idyll. Auch auf heutigen Postkarten sieht es so aus, als könnte man es gut aushalten in dem 40 000-Seelen-Nest. Warum also nicht einen Anziehungspunkt für die ganze Welt schaffen, in diesem Paradies auf Erden?
So dachten es sich Anfang der 70er Jahre eine Handvoll Politiker und Funktionäre unter der Führung des damaligen sizilianischen Assessors Calogero Mannino. Noch heute hat der 76-Jährige einen klingenden Namen in Italien, weil er Statthalter der italienischen Christdemokraten auf Sizilien war und mehrfach Minister wurde. Inzwischen ist Mannino wegen eines angeblich in den 90er Jahren geschlossenen geheimen Pakts zwischen Mafia und italienischem Staat angeklagt. Jahre zuvor wirbelte er für die Unsterblichkeit seines Heimatortes.
Mannino ersann ein Milliardenprojekt, dessen Folgen noch heute unübersehbar sind. Elf Hotels sollten auf dem Gemeindegebiet entstehen, dazu ein Aquarium. Und dann war da noch die Idee, ein Theater mit 1000 Plätzen zu schaffen, das in einem Zug mit den Opernhäusern in den europäischen Metropolen genannt werden sollte. Im Teatro Popolare von Sciacca, das sich wie eine Mischung aus Beton-Ufo und Atom-Meiler in die sizilianische Erde gefräst hat, spielte neulich sogar das Symphonieorchester Siziliens. Mannino, den sie zuhause nur Lillo nennen, saß in der ersten Reihe. Nach dem Konzert sperrte das Theater wieder zu.
„Öko-Monster“ an einem sizilianischen Strand
Seit drei Jahren veröffentlicht das italienische Infrastruktur-Ministerium eine Liste der unvollendeten, leerstehenden und öffentlich finanzierten Gebäude. In der jüngsten Version des Katalogs sind 649 über das italienische Territorium verteilte, sündteure, aber nie fertig gestellte Objekte aufgelistet, darunter Straßen, Brücken, Altenheime, Sporthallen, Schwimmbäder und Bahnhöfe. Allein die 35 in der Zuständigkeit des Ministeriums liegenden Objekte haben bisher 1,2 Milliarden Euro verschlungen, 511 Millionen Euro fehlten zur Vervollständigung. Doch bei vielen Werken hat die Vollendung gar keinen Sinn. Weil auch der Abriss zu teuer ist, verunstalten sie bis auf Weiteres die Landschaft.
Register der Bausünden
Das Bausünden-Register ist der Inbegriff italienischen Planungsversagens und ein Indiz für die tiefgreifenden finanziellen Schwierigkeiten des mit über 2200 Milliarden Euro verschuldeten Staates. Der zuständige Minister Graziano Delrio will eine Task-Force einrichten, die entscheidet, welche Bauten vervollständigt werden sollen. Die Liste wird angeführt von den süditalienischen Regionen Kalabrien, Apulien und Sardinien. Sizilien verzichtete bislang auf eine aktuelle Auflistung, wohl aus gutem Grund. Zur Angabe der Daten besteht zwar eine Pflicht, es gibt aber keine Sanktionen bei Nichtbefolgung. Deswegen ist die Liste in Wahrheit wohl wesentlich länger. „Kathedralen in der Wüste“ oder „Ökomonster“ werden die unvollendeten Bauwerke in Italien genannt.
Cittadella Giudiziaria, Salerno
Sie sind längst zu einem Topos geworden, mit dem Touristen angelockt werden können. An manchen Orten organisieren Aktivisten Führungen an den Stätten des staatlichen Scheiterns. Eine Gruppe junger Leute bietet etwa am Bahnhof von Matera, der europäischen Kulturhauptstadt 2019, Besichtigungstouren an. Unter dem Motto „Incompiuto Travel“ können Interessierte die aus dem Beton sprießenden Grasbüschel unbenutzten Bahnhofs begutachten. Eine andere Gruppe führte jüngst in Salerno durch eine als bahnbrechend angekündigte und vom britischen Star-Architekten David Chipperfield entworfene „Justiz-Stadt“, die seit 2002 ihrer Vervollkommnung harrt.
Pleiten, Betrug und Größenwahn
Die Gründe für das unvorstellbare Ausmaß an Geldverschwendung reichen von der Pleite der ausführenden Baufirmen über fehlende staatliche Mittel, von überholten technischen Standards bis Tölpelhaftigkeit, Größenwahn und Betrug. Einer solchen Mischung verdankt auch das Teatro Popolare seine Entstehung. Mannino, der seit 1971 Regionalminister für Finanzen war, bestellte 1973 bei dem berühmten italienischen Architekten Giuseppe Samonà einen Entwurf. 1979 wurde der Grundstein gelegt, die Region Sizilien gab 30 Milliarden Lire (umgerechnet heute etwa 15 Millionen Euro) für das riesige Gebäude in der zierlichen Kleinstadt aus. Drei Jahre später mussten die Bauarbeiten wegen fehlender Finanzierung abgebrochen werden. Halb fertig, moderte das Prestigeprojekt knapp 25 Jahre vor sich hin.
In einem Kraftakt erklärte sich die Region Sizilien im Jahr 2006 bereit, noch einmal 8,5 Millionen Euro in den Koloss und seine verrottenden Pilaster zu stecken. Mannino war da längst über alle Berge, der Architekt und auch sein Sohn waren bereits verstorben. 30 Jahre nach Grundsteinlegung wurde das Gebäude weitgehend fertig gestellt. Es fehlten noch Details wie die Bestuhlung. Noch einmal steuerte die immer wieder am Rande des Bankrotts stehende Region 350 000 Euro bei. Damit waren rund 25 Millionen Euro öffentlicher Gelder in den Bau geflossen. Jetzt suchten die Bauherren vergeblich nach einem Betreiber, der bereit war, bis zu 900 000 Euro jährlich für den Komplex mit 35 000 Quadratmeter Fläche auszugeben.
Der Fall hatte sich weit über die italienischen Grenzen herumgesprochen. Auch der deutsche Regisseur Werner Herzog machte im Jahr 2009 einen Vorschlag. Herzog schlug vor, das Theater am Ende eines von ihm inszenierten „Ring der Nibelungen“ in die Luft zu sprengen. In Sciacca und im benachbarten Agrigent hielten Teile der Bevölkerung diesen Plan für die beste Lösung. Die Sprengmeister gaben aber zu Bedenken, dass soviel Dynamit zur Zerstörung des Betonklotzes notwendig wäre, dass wohl auch die Häuser des hübschen Sciacca in Mitleidenschaft gezogen werden würden. Also blieb das Raumschiff stehen und wird seither für teure Sonderaktionen entstaubt. Der Rotary-Club durfte im Mai mal rein, vor Wochen fand das Symphoniekonzert mit Mannino statt.
Für das geplante Aquarium in Sciacca wurden 1982 immerhin zwei Buckelwale gekauft, die Schwimmbecken wurden nie gebaut. Nur vier der elf geplanten Hotels wurden realisiert, weil es an einem geeigneten Abwassersystem fehlte. „Unser Wachstumsmodell fußt nicht auf ausgeglichenen Bilanzen“, sagte Calogero Mannino einmal ganz im Ernst.
Siziliens Beton-Mausoleen
In die Galerie sizilianischer Beton-Mausoleen fügt sich auch das Grande Hotel de Calogero in Sciacca, das nicht etwa nach Mannino benannt ist, sondern nach Sankt Calogero, dem Orts-Heiligen aus dem 16. Jahrhundert. Das Hotel gilt als das älteste leerstehende Gebäude Italiens. Die berühmten, aber seit Jahren geschlossenen Thermen von Sciacca liegen in unmittelbarer Nähe ebenso wie die Kathedrale. 1954 wurde der Grundstein für den Koloss gelegt, der mit spektakulärem Blick über das Meer auf den Felsen des Monte Kronio thront. 300 Zimmer hat das Etablissement. Doch seit Jahrzehnten sind Tauben die einzigen Hotelgäste, die Stufen vor dem Eingang sind mit Gras überwachsen.
„Kein Anschluss unter dieser Nummer“, sagt eine Stimme am Telefon wenn man die im Internet angegebene Nummer des Grandhotels wählt. Die Leidensgeschichte des Calogero ist einem Himmelfahrtskommando wie dem des Teatro Popolare verblüffend ähnlich. 30 Jahre dauerten die von der Region Sizilien finanzierten Bauarbeiten. Geld für das Management wollten die Behörden dann aber nicht mehr zur Verfügung stellen. Zehn Jahre lang passierte nichts, außer Verfall. 1993, also knapp 40 Jahre nach Baubeginn, wurde das Hotel erstmals eingeweiht. Die Region bezahlte in der Zwischenzeit bereits Renovierungsarbeiten. Endlich wurde auch eine Betreiberlizenz vergeben. Da stellte man fest, dass das Hotel nicht an die Entwässerung angeschlossen war, die Lizenz wurde zurück genommen. Italiens Steuerzahler büßten den Planungsfehler mit 800 000 Euro Entschädigung für die bereits nominierte Betreiberfirma.
Wer zu diesem Zeitpunkt noch immer an die Unfähigkeit der Planer glauben wollte, der musste spätestens zur Jahrtausendwende und nach der zweiten Einweihung des Hotels an der Rechtschaffenheit der Verantwortlichen zweifeln. Als sich im Jahr 2000 erneut ein Management fand, versäumte es die Gemeindeverwaltung von Sciacca, die notwenigen Unterlagen für den Anschluss an das Abwassersystem der Stadt einzureichen. So lautete die offizielle Begründung. Beobachter, die die Vorgänge realistisch betrachteten, fühlten sich vielmehr an eine Kuh erinnert, die über Jahrzehnte gemolken wurde. Die Kuh, das ist der italienische Staat. Jeder Bauabschnitt, jede von der öffentlichen Hand finanzierte Renovierung, jede Einweihung brachte den Ausführenden Geld und Arbeit, den politischen Entscheidern Wählerstimmen.
Calatrava und Konsorten
Die Mentalität, dass die Ressourcen des Gemeinwesens nach Gutdünken und persönlichen Interessen zu verteilen sind, ist noch heute in Italien weit verbreitet. Nicht nur auf Sizilien. Auch die Hauptstadt Rom verfügt über mindestens ein gescheitertes Prestige-Projekt, bei dem andernorts zahlreiche politische Köpfe gerollt wären. Nicht so in Italien. 2005 entschied die Stadtregierung unter Bürgermeister Walter Veltroni, dass Rom dringend eine riesige Sportanlage benötigte. Das Areal für die „Città dello Sport“ war bald in der südöstlichen Peripherie auf dem Gelände der staatlichen Universität Tor Vergata ausgemacht. Beauftragt wurde der spanische Stararchitekt Santiago Calatrava, der ein 75 Meter hohes eisernes Segel über den Sportanlagen entwarf. Zusammen mit Petersdom und Kolosseum ist es beim Landeanflug auf Rom deutlich zu erkennen.
Città dello Sport, Rom
Das Segel, das als modernes Wahrzeichen der Stadt gedacht war, wurde bald zum Emblem für das Versagen der Verwaltung. Von den geplanten 60 Millionen Euro Baukosten war bald keine Rede mehr, der vierfache Betrag wurde für die Fertigstellung veranschlagt. Die Schwimm-Weltmeisterschaften 2009, die in der überdimensionalen Sportanlage ausgetragen werden sollen, verlegte man in das aus der Mussolini-Zeit stammende Foro Italico am anderen Ende der Stadt. Die Baustelle in Tor Vergata kam zu langsam voran. 2009 wurde der Bau gestoppt.
Notstands-Verwaltung und fragwürdige Vergabeverfahren
In der Zwischenzeit hatte der italienische Zivilschutz, der eigentlich bei Naturkatastrophen zum Einsatz kommen soll, die Aufsicht übernommen. Wie immer bei außerordentlichen Infrastrukturprojekten in Italien seit 2001. So hatte es die Regierung Berlusconi verfügt. Im Zusammenhang mit dieser vor allem durch beschleunigte Vergabeverfahren begründeten Notstands-Verwaltung hob die italienische Justiz alsbald eine Klicke von Baulöwen und korrupten Funktionären aus. Großbaustellen wie die „Città dello Sport“ oder Anlagen für den G-8-Gipfel auf dem sardischen Insel-Archipel La Maddalena waren zu Selbstbedienungsläden geworden. Nach dem Erdbeben 2008 in den Abruzzen verlegte Berlusconi den G-8-Gipfel flugs in die zerstörte Stadt L’Aquila. Die luxuriösen Bauten in La Maddalena verschlangen 470 Millionen Euro und liegen seither brach.
Die Allgemeinheit profitierte nicht, sie bezahlte. Für Calatravas unvollendete römische Sportstadt haben die Steuerzahler bis heute 201 Millionen aufgewendet. Das Trauerspiel ist immer noch nicht zu Ende. 2011 wurden die Bauarbeiten wieder aufgenommen, Rom plante eine Bewerbung für die olympischen Sommerspiele 2020. Für Olympia war nicht nur ein Schwimmstadion, sondern auch eine überdachte Halle mit 15 000 Plätzen notwendig. Auch dafür wurden die Fundamente gelegt. Dann kassierte Premierminister Mario Monti die Olympiabewerbung, er versuchte Italiens Finanzen wieder in Ordnung zu bringen. Heute geistern verschiedene Ideen durch die Stadt. Eine Option ist die Austragung der Olympischen Spiele 2024, über die erst noch das Internationale Olympische Komitee entscheiden muss. Lokalpolitiker schlugen die Umwidmung des unvollendeten Sportmonstrums in einen Botanischen Garten vor. Natürlich nur, wenn der Stararchitekt einverstanden wäre. Man fragt sich, was origineller ist: Werner Herzogs Vorschlag zur Sprengung des Theaters von Sciacca oder eine 200 Millionen teure Voliere für Schmetterlinge? Wie es heißt, sind zur Vollendung des Sportgeländes noch mindestens 400 Millionen Euro notwendig.