Ein Vater holt seinen Sohn von der Schule ab. Dort war von der Mafia die Rede, jetzt bekommt der Kleine eine Lektion, die er für sein Leben nicht vergessen soll. „Hör mir gut zu, mein Sohn“, sagt der Vater. „Die Familie wendet sich nicht an das Gesetz. Sie sorgt selbst für Gerechtigkeit. Wenn dir jemand Unrecht getan hat, gehe ich nicht zur Polizei. Ich bringe ihn um.“
Dieses Gespräch haben italienische Staatsanwälte 2001 abgehört. Sie waren damals einem Boss der kalabrischen ’Ndrangheta auf der Spur. Die süditalienische Mafiaorganisation gilt als eine der mächtigsten kriminellen Vereinigungen der Welt. Sie ist eine der skrupellosesten Banden, spezialisiert auf den Handel mit Kokain und Waffen. 2008 wurde ihr Jahresumsatz auf 44 Milliarden Euro geschätzt.
Die Familienbande unter Mitgliedern der ’Ndrangheta sind besonders eng. Für Ermittler ist es schwierig, die von Generation zu Generation weitervererbte kriminelle Tradition zu durchbrechen. Justiz-Kollaborateure gibt es in Kalabrien so gut wie nicht, im Gegensatz zu Sizilien oder Kampanien, wo die Ermittler auf die Mitarbeit ehemaliger Mafiosi bauen können. Wie ein Naturgesetz wird der kriminelle Code über Generationen weitergegeben.
Roberto Di Bella will diesen Automatismus durchbrechen. Der Sizilianer ist Präsident des Jugendgerichts in der Regionalhauptstadt Reggio Calabria, deren Stadtverwaltung vor einem Jahr vom italienischen Innenministerium aufgelöst wurde, weil sie von der ’Ndrangheta infiltriert war. Di Bellas Idee ist, die Kinder von Mafiosi, die den kriminellen Kurs ihrer Verwandtschaft einschlagen, ihren Familien zu entziehen. „Wir wollten den Zyklus durchbrechen, in dem negative kulturelle Werte vom Vater auf den Sohn weitergegeben werden“, sagte er in einem Interview.
In mehr als 15 Fällen erließen er und seine Kollegin Francesca Di Landro entsprechende Verfügungen, die Jugendlichen standen wegen kleinerer Delikte vor Gericht. Das Gericht entschied: Die ’Ndrangheta-Bosse verlieren ihre Erziehungsberechtigung, ihre Kinder – meist handelt es sich um die männlichen Nachkommen – werden sozialen Einrichtungen fern ihrer Heimatregion anvertraut.
Eklatant ist etwa der Fall eines 16 Jahre alten Sprösslings aus einem der einflussreichsten Clans der Locride, dem bergigen Hinterland Kalabriens. Der Jugendliche war in der Nähe eines beschädigten Polizeiautos festgenommen und im Prozess wegen Sachbeschädigung aus Mangel an Beweisen freigesprochen worden. Nachforschungen des Jugendgerichts förderten jedoch ein desaströses Umfeld zutage: der Vater ermordet, die Brüder wegen Mordes und Mafiadelikten im Gefängnis, der Jugendliche umgab sich in seiner Freizeit mit Vorbestraften und schwänzte die Schule. In den Akten notierten die Richter, dass die Mutter und die übrige Verwandtschaft „keine Garantien für die Erziehung des Jugendlichen“ bieten könnten, da es sich bei der Familie um einen der einflussreichsten Mafia-Clans der Gegend handelte.
Obwohl sich der Jugendliche selbst nicht direkt strafbar gemacht hatte, verfügten die Jugendrichter seine Unterbringung in einer sozialen Einrichtung außerhalb Kalabriens und stellten ihm einen Betreuer zur Seite. Einmal im Monat kann er seine Familie besuchen. Diese Maßnahme sei „die einzige Möglichkeit, den 16-Jährigen vor einem vorgezeichneten Schicksal zu bewahren“ und ihm eine „ernsthafte kulturelle Alternative“ zu bieten. So formulierten die Richter in ihrem Urteil.
„Ich bin mir bewusst, dass es sich um einen schweren Eingriff handelt“, sagte Di Bella. Er sehe aber keine andere Möglichkeit. Die Mafia-Familien wehren sich gegen das radikale Experiment. In einem Fall bestätigte die Berufungsinstanz die Entscheidung der Jugendrichter, die Nachkommen einer ’Ndrangheta-Familie außerhalb Kalabriens in Obhut zu geben. Maria Concetta Cacciola war Mitglied eines Clans und hatte sich zur Zusammenarbeit mit der Justiz entschieden. Die Großeltern drohten der Mutter, ihren drei Kindern Schaden zuzufügen. Cacciola, die laut Gericht Opfer einer mafiösen „Subkultur“ geworden sei, beging Selbstmord.
Die Blutsbande in der kalabrischen Mafia sind berüchtigt. Es kommt vor, dass junge Frauen gegen ihren Willen verheiratet werden, um die Macht von ’Ndrangheta-Familien auszuweiten. Neue Mitglieder müssen sich einem Initiationsritus unterziehen. Sie lassen sich in den Finger stechen, das Blut tropft auf ein Bild des Erzengels Michael. Dann schwören sie: „Ich verspreche der Organisation, treu zu sein. Wenn ich nicht treu bin, soll ich verbrennen wie dieses Bild.“ In diesem Zusammenhang wirkt das Programm des Jugendgerichts in Reggio Calabria ambitioniert. Di Bella hofft trotzdem, dass die Jugendlichen, wenn sie als 18-Jährige frei über ihre Zukunft entscheiden können, den richtigen Weg einschlagen.
Wie der Vater, so der Sohn
Süddeutsche Zeitung, 20.8.2013 Die kalabrische ’Ndrangheta vererbt ihren kriminellen Code über Generationen in den Familien weiter. Ein Richter will diesen Automatismus nun durchbrechen: Er nimmt den mafiösen Clans die Kinder weg.