Bangen um den italienischen Patienten

Wirtschaftswoche (wiwo.de), 12.7.2013 Italien befindet sich in der größten Rezession seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Es sieht nicht so aus, als ob das Land es auf absehbare Zeit aus der Krise schafft.

Paolo Manasse hat drei Szenarien für Italien im Kopf. Wird die Regierung Letta wirksame Reformen einführen? „Glaube ich eher nicht“, sagt Manasse. Zweitens: Langsames Dahinsiechen wie bisher und hoffen, dass der Aufschwung sobald wie möglich einsetzt. Drittens: Der Bruch der Regierungskoalition, weiteres Misstrauen der Märkte und schließlich die Flucht unter den EU-Rettungsschirm und in die Arme von Mario Draghi, dem Chef der Europäischen Zentralbank? „Fifty-Fifty“, schätzt der renommierte Makroökonom von der Universität Bologna.

Vielleicht ist es berufliche Abgeklärtheit, die die Stimme des Wirtschaftswissenschaftlers so kühl wirken lässt beim Durchspielen der Optionen für die nähere Zukunft seines Heimatlandes. Fest steht, die düstersten Szenarien haben in den Prognosen der Experten inzwischen dasselbe Gewicht wie die Hoffnung auf ein glimpfliches Ende. „Dieser August könnte unschöne Überraschungen bringen“, prophezeit Manasse, der schon die EU-Kommission und den Internationalen Währungsfond (IMF) beraten hat. Italien hat entscheidende Wochen vor sich.

Schon einmal stand das Land vor dem wirtschaftlichen Abgrund. 2011 hatte sich die Schuldenkrise für Italien extrem zugespitzt, die Anleger stuften die Kreditwürdigkeit des Landes immer niedriger ein, es drohte der Kollaps der Staatsfinanzen. Premier Silvio Berlusconi musste zurücktreten, es übernahm der ehemalige EU-Kommissar Mario Monti. Angesichts des drohenden Desasters gelang Montis Regierung eine grundlegende Pensionsreform, die den Staatsfinanzen langfristig Luft verschaffen sollte. Als der Notstand fürs erste überwunden schien, das Vertrauen der Märkte zurückkam, wurden die weiteren von Monti konzipierten Reformen verwässert. Die trügerische Ruhe verleitete einige Parteien dazu, ihre altbekannte Klientelpolitik weiter zu verfolgen. Hier wurde ein Schräubchen gedreht und da eine Lobby ruhig gestellt, strukturelle Reformen blieben aus. Bis heute hat sich daran nichts wesentlich geändert. Dabei ist die Lage der italienischen Wirtschaft denkbar schlecht.

Steigende Armut

Der Internationale Währungsfonds (IMF) hat seine Prognose für den Rückgang des Bruttoinlandsprodukts in 2013 weiter nach unten korrigiert. Um fast zwei Prozent soll Italiens Wirtschaft schrumpfen. Das Land befindet sich in der größten Rezession seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Täglich müssen Hunderte Firmen schließen, die Arbeitslosigkeit steigt, etwa 40 Prozent aller Jugendlichen haben keinen Job. Viel schlimmer geht es eigentlich nicht. Die Rezession könnte bald „den sozialen Frieden bedrohen“, warnte Ende Mai der Vorsitzende der Banca d’Italia, Ingazio Visco. Schon heute gibt es regelmäßig Berichte über steigende Armut.

Eine der wenigen positiven Nachrichten: Die Neuverschuldung bleibt offenbar unter der von der EU festgesetzten Drei-Prozent-Grenze. Aber sie wächst dennoch. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) prognostiziert, dass Italiens Staatsschulden, die derzeit bei etwa 130 Prozent des BIP liegen, in den kommenden Jahren weiter ansteigen werden. Die Schuldenlast ist mit über zwei Billionen Euro enorm, keinen Staat in der Eurozone drückt ein größeres Minus. Es ist unstrittig, dass Italien Wachstum braucht. Die Regierung von Ministerpräsident Enrico Letta hat deshalb Ausgaben in Höhe von drei Milliarden Euro versprochen, der Staat soll außerdem alte Lieferantenverbindlichkeiten in Höhe von 90 Milliarden Euro Stück für Stück begleichen. So aber drohen die Schulden weiter zu wachsen. Und damit das Misstrauen der Anleger, ob Italien seine Verbindlichkeiten zurückzahlen kann.

Die Ratingagentur Standard&Poors senkte in diesen Tagen ihre Bewertung der Kreditwürdigkeit Italiens. Die Frage, die sich viele stellen, lautet: Könnte die drittgrößte Volkswirtschaft Europas im Fall des Falles überhaupt gerettet werden? Oder ist nicht viel zu groß für den EU-Rettungsschirm?

 Beruhigend wirkt für manche das Versprechen Mario Draghis, der italienische Chef der Europäischen Zentralbank (EZB). Er hatte 2012 angekündigt an, die EZB werde „alles Erforderliche tun, um den Euro zu retten“. Das bedeutet, die EZB kann theoretisch unendlich Geld drucken lassen und im Fall des Falles unbegrenzt italienische Staatsanleihen aufkaufen. Doch diese Geldpolitik würde auf die Widerstände von EU-Partnern wie etwa Deutschland stoßen, wo man steigende Inflation scheut wie der Teufel das Weihwasser. Technisch wäre diese Lösung denkbar, politisch wohl kaum.
Auf der Intensivstation
Derweil liegt der italienische Patient weiter auf der Intensivstation, weitgehend ignoriert von den seinem Leibarzt, der italienischen Politik. Auf grundlegende, strukturelle Reformen können sich die Koalitionspartner nicht einigen. Stabile Verhältnisse sind eine Voraussetzung für das Vertrauen der Märkte. Doch die von Premier Enrico Letta geführte und erst Ende April vereidigte Regierung hängt wie die meisten der bisher 62 Nachkriegsregierungen Italiens am seidenen Faden. Inhaltlich streiten sich Linksdemokraten, die kleine Partei Mario Montis und die Berlusconi-Partei „Volk der Freiheit“ über die Abschaffung der Grundsteuer und das Aussetzen der Erhöhung der Mehrwertsteuer. Das sind Wahlkampf-Versprechen Berlusconis.

Noch schwerer lasten Berlusconis Probleme mit der Justiz auf der Exekutive. Der viermalige Ex-Premier führt die an der großen Regierungskoalition beteiligten Partei „Volk der Freiheit“. Am 30. Juli wird der Oberste Gerichtshof in Rom ein letztinstanzliches Urteil verkünden, das über das Schicksal des 76-Jährigen entscheidet. Berlusconi wurde in erster und zweiter Instanz zu vier Jahren Haft wegen Steuerbetrugs verurteilt und muss im Fall einer Bestätigung dieser Urteile alle öffentlichen Ämter, also auch seinen Sitz im Senat, abgeben. Ins Gefängnis muss er aufgrund seines fortgeschrittenen Alters nicht. Doch der Countdown läuft.

Wird Berlusconi definitiv verurteilt, platzt die Koalition. Das haben seine Gefolgsleute bereits angekündigt. Die Folgen sind erneutes politisches Chaos mit nicht absehbarer Wirkung auf die Märkte, die Italien weiter Vertrauen entziehen könnten. „Entweder ändert sich die Marschrichtung, oder das Defizit ist nicht mehr tragbar“, sagt Francesco Giavazzi, Ökonom an der Bocconi-Universität in Mailand. Eine Kursänderung ist nicht in Sicht. Alles wirkt derzeit so, als steuere Italien auf ein erneutes Desaster zu.

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