Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 23.10.2011 Die Römer erwarten von Fußballstars, dass sie sich auch wie Fußballstars benehmen. Miroslav Klose ist für die Lazio-Fans deshalb eine Überraschung. Der Rummel prallt am Deutschen einfach ab.

Sie wollen irgendetwas Griffiges, aber Miroslav Klose entzieht sich den Fragen der Hauptstadtreporter wie ein glitschiger Fisch. Wie hat sich der Schütze des entscheidenden Tores gefühlt nach seinem Siegtreffer vor einer Woche im Derby in allerletzter Minute, will ein italienischer Journalist bei der ersten Pressekonferenz wissen, die Klose nach vier Monaten in Rom gibt. Und Miroslav Klose schiebt seinen Kopf vorsichtig in Richtung der Mikrofone, die vor ihm wie ein bedrohliches Bündel Neugierde auf einem großen Tisch aufgebaut sind. Kloses Vorteil ist, dass die Sprache noch wie ein Schutzschild zwischen ihm und der Presse steht, er spricht fast kein Italienisch. Es gibt nichts zu entschärfen in Kloses Worten, aber der Dolmetscher macht sie noch einmal harmloser, als sie es sowieso schon sind. Miroslav Klose sagt, er habe sich vorher bereits mit dem Stadtduell zwischen seinem Klub Lazio Rom und dem AS Rom beschäftigt. "Es waren immer sehr emotionale Spiele, und deshalb bin ich mir schon bewusst, was wir da als Mannschaft geschafft haben." Der Fisch flutscht zurück ins

Wasser. Die Reporter haben sich das anders vorgestellt. Sie hatten einige Tage zuvor ja gesehen, wie alle Ersatzspieler von Lazio Rom aufgesprungen und zur Werbebande vor der Fankurve gestürmt waren, wo die Mitspieler den Stürmer aus Deutschland schon zum Zentrum eines hüpfenden Menschenknäuels gemacht hatten. Ob er wollte oder nicht. Kein Klose-Salto, kein mit Zeigefinger und Daumen geformter Ring als Jubelgeste. Es war einfach keine Zeit. Klose waren nur ein paar Augenblicke für einen Schrei geblieben, der in der tosenden Begeisterung der Zuschauer unterging. Fünf Derbys hatte Lazio gegen den AS Rom nicht gewonnen. Eine Ewigkeit in Rom. Und auf einmal ist der 33 Jahre alte Nationalspieler aus Deutschland Auslöser eines fußballerischen Umsturzes in der italienischen Hauptstadt. Aber man merkt es Klose nicht an. Es scheint so, als habe Rom auf ihn dieselbe Wirkung wie eine steife Brise an der Weser oder ein kühles Bad im Tegernsee. In Bremen wurde der Stürmer…

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 16.10.2011 Chaos, Arbeitslosigkeit, Kriminalität: Im Fußball sucht Neapel das, was es im Alltagsleben nicht hat.

Die lauteste Stimme Neapels klingt leise und erschöpft. Man muss sich sehr nahe zu Raffaele Auriemma setzen, um seine Worte zu verstehen, während hupende Motorräder, Roller, Kleinwagen und Busse am Tisch des Cafés an der Uferpromenade vorbeibrausen. Neapel ist laut, und der TV-Reporter ist einer der lautesten in dieser Stadt, aber nur während der Partien des SSC Neapel. Den Rest der Woche muss er seine Stimme schonen. Auriemma ist das berühmteste Exemplar einer seltenen Spezies, die entweder Kopfschütteln oder Ekstase hervorruft. Er ist "commentatore tifoso" - Fan-Kommentator des SSC Neapel. Alle paar Minuten muss der dunkelblonde Schlaks mit Halstuch und Hornbrille fremde Hände schütteln und Komplimente entgegennehmen. Er ist die Stimme einer Stadt, die sonst kaum Gehör findet. Aber wenn der legendäre Reporter beim ersten Sieg des SSC Neapel gegen Juventus Turin seit über 20 Jahren den zweimaligen Torschützen Marek Hamsik brüllend zum "Unesco-Weltkulturerbe" erhebt und kreischend darum bittet, sofort in Turin beerdigt zu werden, weil mehr von diesem Leben nicht zu erwarten sei, dann sind das die Worte, die Neapels Glück am besten Ausdruck

geben. Erstmals seit den glorreichen Zeiten Ende der 80er Jahre spielt der SSC Neapel wieder in der Champions League. Am Dienstagabend tritt der FC Bayern München im Gruppenspiel im Stadio San Paolo an, einer riesigen Betonschüssel, die wie vieles in Neapel ein Anachronismus ist. Auf dieser baufälligen Bühne wollen die Neapolitaner endlich wieder international von sich reden machen, aber diesmal eben nicht mit negativen Schlagzeilen über das neueste Attentat der Camorra oder stinkende Müllberge auf den Straßen. "Im Fußball suchen wir das, was wir im Leben nicht haben", flüstert Auriemma. Die Neapolitaner sind täglich mit unzähligen Schwierigkeiten konfrontiert, mit einer Arbeitslosigkeit von mehr als 30 Prozent, mit niedrigen Löhnen, Kriminalität, dem chaotischen Verkehr und dem immer noch nicht endgültig gelösten Müllproblem. Der vor kurzem neu gewählte Bürgermeister der Bewegung Italia dei valori (Italien der Werte) hat zwar frischen Wind gebracht, aber dass er die riesigen…