Süddeutsche Zeitung, 19.8.2010 Geboren in Novara, groß geworden in Mailand: Der Campari gilt immer noch als Inbegriff des Aperitifs.

Es heißt, es bringe Glück, wenn man in der Mailänder Galleria Vittorio Emanuele II. seine rechte Ferse auf die Stierhoden setzt und sich im Kreis dreht. Die Hoden gehören dem Stier im Wappen der Stadt Turin, das in der achteckigen Zentralhalle in den feinen Marmorboden der berühmten Passage eingelassen ist. Kommt man am späten Nachmittag, ist im Hintergrund bereits das Klirren der Eiswürfel zu vernehmen. Die Galleria Vittorio Emanuele II. ist so etwas wie der Mittelpunkt der Aperitifkultur, auch wenn sich neben den Luxusboutiquen die Fastfoodketten in den prächtigen Hallen eingenistet haben. Der Grund, weshalb die Mailänder hier das Turiner Wappen mit Füßen treten, mag auch darin liegen, dass es in Turin die ersten italienischen Kaffeehäuser gab, im Piemont die ersten Mundschenks an neuen Aperitifs experimentierten und eben nicht in der Lombardei. Turin und sein Stier sind also für die Mailänder immer noch eine Bedrohung, wenn es um die Erfindung des Aperitifs geht. Auch wenn das, was in anderen Ländern als „Happy Hour“ oder „Vorglühen“ bezeichnet wird, erst in Mailand zu wahrer Größe und Weltruhm gereift ist,

wie die Mailänder nicht zu Unrecht behaupten. Ein Zentrum dieser ursprünglich erhabenen Kultur ist auch heute noch das „Caffè Campari“, das später in „Camparino“ umbenannt wurde und heute „Caffè Zucca“ heißt. Die Häppchen der High Society Davide Campari, Sohn des Campari-Erfinders Gaspare, übernahm 1915 das Lokal als „Camparino“ in der noblen und nach dem Einheits-König benannten Galleria Vittorio Emanuele II. Der Bitter war da bereits ein etablierter Drink, den die Mailänder Intellektuellen mit der High Society schlürften und dazu Häppchen aßen. Schon damals bekamen Giuseppe Verdi, Giacomo Puccini und später auch Arturo Toscanini auf dem Rückweg von der Scala einen in Eissplitter getauchten Glasbecher von Kellnern in weißer Livree. Heute noch hängt der elegante, schmiedeeiserne Lampenschirm von der hohen Decke, ziehen bunte Wandmosaike die Blicke auf sich und diskutieren im Séparée Geschäftsleute auf der Suche nach der besten Strategie. Die Szenerie wird von der…