Sie ist Italiens Gewissen

Focus, 30.8.2024 - Die 93-jährige Liliana Segre überlebte einst den Holocaust. Nun erhebt sie ihre Stimme gegen die Politik von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni.

Mit ihren 93 Jahren wollte sie eigentlich nicht mehr öffentlich sprechen. Aber nun sitzt Liliana Segre doch wieder vor dem Mikrofon, mit beiden Händen hält sie ihr Manuskript fest. Für den Auftritt hat sie, passend zu ihrem schlohweißen Haar, ein weißes Kleid gewählt – ein harter Kontrast zu den rotsamtenen Sesseln im Senat, der hohen Kammer des italienischen Parlaments. Aber vielleicht will Signora Segre genau das: auffallen. Sie will gehört werden. Denn sie ist tief besorgt.

Im Parlament wird an dem Tag die Verfassungsreform der rechtsextremen Regierung Giorgia Melonis diskutiert. Ihr Kernstück ist die Direktwahl des Ministerpräsidenten, der mindestens fünf Jahre regieren soll und neue, weitreichende Befugnisse bekommt. Im Juni stimmte der Senat erstmals für das Gesetz, drei weitere Durchläufe sind notwendig, weil es um tiefgreifenden Einschnitte geht, die laut Meloni „revolutionär“ seien und „eine Chance, Italien zu einer reifen Demokratie zu machen“.

Liliana Segre jedoch sieht darin keine „Chance“, sondern eine Bedrohung. „Ich kann und ich will nicht schweigen“, sagt sie. Denn die Grande Dame der italienischen Politik, Senatorin auf Lebenszeit, ist eine Zeitzeugin. Eine von den wenigen, die noch am eigenen Leib erfahren haben, wie Italien unter dem „Duce“ Benito Mussolini faschistisch wurde.

Als junges Mädchen musste sie, die Tochter assimilierter Juden aus Mailand, sich jahrelang verstecken. Als die Flucht in die Schweiz missglückte, wurden sie und ihr Vater nach Auschwitz deportiert. Liliana Segre entkam der todbringenden Selektion, musste als Kind Zwangsarbeit leisten. Sie überlebte das Vernichtungslager, den „Todesmarsch“ nach Deutschland. Traumatisiert kehrte sie 1945 nach Mailand zurück, ihr Vater, die Großeltern und Cousinen waren von den Nazis ermordet worden.

Die Spuren des Faschismus trägt Liliana Segre bis heute auf ihrer Haut: 75190 lautet die Nummer, die ihr die Aufseher in Auschwitz auf den Arm tätowiert haben.

Nun kann man die Politik der Regierung Meloni im Jahr 2024 gewiss nicht mit der des faschistischen Regimes von Mussolini ab 1922 gleichsetzen. Aber es ist schon eine merkwürdige Konstellation, dass heute Segre die am lautesten zu vernehmende Stimme ist, die vor einer autoritären Wende in Italien warnt. Eine Frau, die als Kind die Schrecken des Totalitarismus erlebt hat, versucht, ihre Landsleute aufzurütteln.

„Segre ist die Wächterin der Geschichte, sie ist das historische Gedächtnis Italiens“, sagt Aldo Cazzullo. Für den Journalisten des Mailänder „Corriere della Sera“ und Autor von Büchern über den Faschismus ist Segre die „Anti-Meloni“. Sie ist das Gewissen Italiens. Immer wieder hatte sie bei politischen Debatten das Wort ergriffen. In ihrer Rede vor dem Senat wurde vor allem eine Botschaft klar: Wehret den Anfängen und lasst es nicht wieder soweit kommen.

Meloni will die Verfassung umkrempeln

Giorgia Meloni ist nun seit bald zwei Jahren im Amt. Als Regierungschefin hat sie zwar den Holocaust als „den Abgrund der Menschheit“ bezeichnet, den „verbrecherischen Plan des Nazifaschismus“ gebrandmarkt. Dennoch steht ihre Partei Fratelli d’Italia in der Tradition des Postfaschismus. Meloni selbst war als Jugendliche eine glühende Verehrerin des Duce.

Die aktive Beteiligung italienischer Faschisten an der Judenvernichtung ist bis heute ein Tabu im Land. Im Frühjahr erst kam es zum Eklat, weil der öffentlich-rechtliche TV-Sender RAI in einem Akt der Selbstzensur die Rede des Schriftstellers Antonio Scurati gecancelt hatte, der die Würdigung der Antifaschisten fordert. „Die allermeisten Italiener sind keine Faschisten“, sagt Journalist Cazzullo, „aber sie verbinden auch nichts Negatives mit dem Faschismus“.

Es ist dieser blinde Fleck in Italiens Selbstverständnis, der Menschen wie Liliana Segre alarmiert. Sie war es, die nach Melonis Wahlsieg im September 2022 als Alterspräsidentin der hohen Kammer die Legislatur eröffnete – eigentlich aus Zufall, denn der Ex-Staatspräsident und noch ältere Senator auf Lebenszeit, Giorgio Napolitano, dem diese Ehre zukam, war zu krank. Segre, die 1938 wegen der von Mussolinis erlassenen Rassengesetze aus ihrer Mailänder Grundschule verbannt wurde, sagte, ihr sei „schwindelig“ angesichts ihres Vorsitzes in diesem „Tempel der Demokratie“. Sie sah darin einen „eigenartigen Wink des Schicksals“, denn die Amtseinführung Melonis fand ausgerechnet zum 100. Jahrestag der Machtergreifung Mussolinis und seiner faschistischen Schwarzhemden statt.

Jetzt, im Sommer 2024, mischt das Schicksal die Karten wieder neu. Auf der einen Seite steht die Vollblut-Politikerin Meloni, die 1992 ihre Karriere in der Nachfolgeorganisation der faschistischen Partei Italiens begann, dem Movimento Sociale Italiano. Mit ihren rechtsextremen Fratelli steht sie unangefochten an der Spitze der Exekutive in Rom und will nun das Verfassungsgefüge umkrempeln.

Auf der anderen Seite steht Segre, die erst heiratete, drei Kinder zur Welt brachte und als Unternehmerin arbeitete, bevor sie mit 60 die öffentliche Bühne Italiens betrat und in die Rolle der Kassandra geschlüpft ist, einer besorgten Mahnerin. Die Schicksalsfigur Kassandra war zum Scheitern verurteilt. Und Segre? Sie hat das Unheil überlebt – und dann ihr ganzes Leben gelitten. 50 Jahre lang, so erzählt es die Holocaustüberlebende, haben ihr Schweigen und ihre Depression angedauert. Erst spät, auch auf ärztlichen Rat hin, begann sie als Zeitzeugin von ihren Erfahrungen zu berichten. „Ich habe überlebt, um zu erinnern“, sagt sie heute.

Es war der italienische Fernsehjournalist Enrico Mentana, Direktor der Abendnachrichtensendung auf La7, der sie der breiten Öffentlichkeit bekannt machte. 2015 veröffentlichte er mit Segres deren Biografie „La memoria rende liberi“, die unter dem Titel „Erinnern macht frei“ Anfang September auf Deutsch erscheint. Mentana, selbst jüdischer Abstammung, ging mit Segres ältestem Sohn Alberto aufs Gymnasium. „Aber Alberto hat mir nie von der Geschichte seiner Mutter erzählt, denn sie hatte niemandem, selbst ihren Kindern jemals vom KZ berichtet“, sagt Mentana, heute 69 Jahre alt.

Drei Jahre nach der Veröffentlichung der Biografie ernannte Italiens Staatspräsident Sergio Mattarella das einst verfolgte Mädchen zur Senatorin auf Lebenszeit. Das sei eine enorm wichtige Geste gewesen, meint Mentana, denn mit Liliana Segre zog das Gedenken an den Holocaust ins Parlament ein. Ihre Lebensgeschichte legitimiert sie dazu, jede Entwicklung anzuprangern, die sie für eine Bedrohung der Demokratie hält – wie jetzt die Verfassungsreform Melonis. „Segre weiß, dass eine autoritäre Wende das friedliche Zusammenleben gefährden kann – und niemand wird ihr dabei widersprechen“, sagt Mentana, ihr Biograf.

Doch das stimmt nur zum Teil. Seitdem die Signora im Senat zur Vorsitzenden der Kommission gegen Hass, Diskriminierung und Antisemitismus gewählt wurde, stürzen sich die Hater im Internet auf sie. Sie bekommt unzählige Hassnachrichten. Weil sie öffentlich Stellung für Asylbewerber oder Sinti und Roma bezog, wurde sie zur Zielscheibe von Antisemiten und Rechtsextremen.

Sie steht jetzt sogar unter Polizeischutz

Seit November 2019 steht sie deshalb unter Polizeischutz und darf das Haus nur in Begleitung von zwei Leibwächtern verlassen. „Ich bin die älteste Person in Europa, die wegen antisemitischen Hasses beschützt werden muss. Das ist eine Schande“, sagt Segre.

Bei ihren Auftritten wirkt die hochgewachsene Norditalienerin kühl, ihre Urteile sind hart. Und sie ist nicht alleine. Nach ihrem flammenden Appell für die Demokratie im Senat schlugen sich mehr als 180 Verfassungsrechtler, darunter auch drei ehemalige Präsidenten des Verfassungsgerichts, explizit auf ihre Seite. „Es gibt Momente in der Geschichte eines Landes, in denen das Vorhaben, die Grundregeln zu verändern, besorgniserregend wird“, schrieben sie in ihrem offenen Brief.

Sollte die Meloni-Reform in Kraft treten, könnte eine Minderheit die Kontrolle über die demokratischen Institutionen erlangen – ohne Gegengewicht und ohne Kontrollmechanismen, befürchten die Juristen. Das Parlament würde zum Abnicker des Regierungswillens degradiert. Der Staatspräsident, heute Garant der Stabilität in Italien, verkäme zum Notar der Regierungspolitik.

„Angesichts all dessen können und wollen wir nicht schweigen“, schreiben die Rechtsexperten – und die Opposition schloss sich dem Aufruf an, die Reformpläne zu stoppen, „bevor es zu spät ist“. Das genau waren Liliana Segres Worte bei ihrer Rede im Senat, die sie eigentlich nie halten wollte.

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