Ist Italien noch eine große Fußball-Nation?

FAZ, 6.9.2024 - Das Ausscheiden im EM-Achtelfinale hat Spuren hinterlassen - nicht nur bei Trainer Luciano Spalletti

Die Graugänse Hansi Flicks sind bei Luciano Spalletti Enten. Sie sitzen im Weiher seines Bauernhofs in Montaione südwestlich von Florenz in der Toskana. Hier, am Ort seines Rückzugs, hat der „commissario tecnico“ der italienischen Fußball-Nationalmannschaft fast den gesamten Sommer verbracht.

Oft saß Spalletti auf seinem Traktor, zwischen Vogelstrauß und Esel. Gespräche führte der Coach vor allem mit sich selbst. Er habe sehr viel nachgedacht, berichtete Spalletti zum Start der neuen Saison. „Es war ein schrecklicher Sommer, denn auch wenn ich mich gezwungen habe, nicht daran zu denken, gingen meine Gedanken immer wieder zurück zum Spiel gegen die Schweiz.“

Eigentlich geht es für Italien an diesem Freitag zu Beginn der Nations League in Paris gegen den Erzrivalen Frankreich. Wie es scheint, sollen dieses und die folgenden Spiele (gegen Israel und Belgien) Italien und seinem Trainer aber vor allem zur Überwindung angehäufter Enttäuschungen dienen.

Unverdaute verpasste Qualifikationen

Da wäre zum Einen die bedrückende 0:2-Niederlage aus dem EM-Achtelfinale Ende Juni gegen die Schweiz, die in Italien als neuerlicher Tiefpunkt in der Geschichte der Nationalmannschaft aufgefasst wird. Hilflos, fantasielos und eingeschüchtert schied die Squadra Azzurra aus.

Unverdaut sind weiterhin auch die beiden verpassten Qualifikationen für die WM-Turniere 2018 und 2022, weshalb der Auftakt zur Nations League für Italien mit einem besonders großen Gewicht daherkommt. Das Abschneiden bei dem nun beginnenden Turnier beeinflusst die Auslosung der Gruppen für die Qualifikation zur WM 2026, zu der die UEFA diesmal 16 statt zuletzt 13 Teilnehmer entsenden wird.

Eine weitere Zuschauerrolle bei einer WM würde auch im eigenen Land die Gewissheit zementieren, dass man trotz des Überraschungssiegs bei der EM 2021 und vier in der Vergangenheit gewonnener WM-Titel schlicht nicht mehr dazugehört zum Kreis der großen Fußballnationen.

Es liegt also eine gewisse Schwere über diesem Neubeginn. Spalletti will jenem Trend mit Leichtigkeit begegnen, die allein schon charakterlich nicht gerade eine Spezialität des 65-Jährigen aus der Toskana ist. „Ich bewundere Spalletti für sein Misstrauen gegenüber dem Glück“, hatte der aus Neapel stammende Schauspieler Silvio Orlando gesagt, als der Trainer den SSC Neapel zum ersten Meistertitel nach 33 Jahren coachte.

Das war erst vor gut einem Jahr. Spalletti ist ein oft miesepetriger, nicht immer verständlicher Fußballphilosoph, der Entspannung nur im schönen Spiel oder auf dem Bauernhof findet. Wenn man so will, muss der Hobby-Landwirt jetzt erst einmal wieder zurück zur harten Arbeit auf der Scholle.

Denn – so sind sich die Beobachter einig – das Team verstand die Ideen seines Chefs zuletzt schlicht nicht. Spalletti war im September vor einem Jahr als Nachfolger des nach Saudi-Arabien getürmten Roberto Mancini eingesprungen, vermochte es aber bis zum Ende nicht, seine ebenso virtuosen wie komplexen Ideen zu vermitteln. „Es ist nicht ihre Schuld“, sagt der Coach nun über seine verunsicherten Spieler.

Sünder wieder mit dabei

„Ich habe sie zu sehr unter Druck gesetzt und ihnen nicht die Möglichkeit gegeben, die Schönheit des Trikots zu genießen.“ Der Weg zur Stabilität soll nun über einfachere Rezepte funktionieren. So kündigte Spalletti die Rückkehr zu einem 3-5-2-System an, das bei Offensiv-Puristen wie ihm eigentlich als Ausdruck von Feigheit verschrien ist. „Ich habe zu viel von meinen Spielern verlangt. Wir wollten mit einer Viererkette verteidigen und mit drei (Verteidigern, d. Red.) aufbauen, aber um bestimmte Abläufe zu lernen, braucht man Zeit“, erklärte der Coach.

Mit dabei im Kader sind nun auch jene Sünder, die erst vor einem Jahr den letzten großen Skandal im italienischen Fußball auslösten. Nicolò Fagioli (23, Juventus Turin) und Sandro Tonali (24, Newcastle United) hatten wegen illegaler Sportwetten eine Durchsuchungsaktion italienischer Ermittler im Trainingszentrum der Nationalmannschaft in Coverciano bei Florenz ausgelöst.

Beide Spieler kooperierten mit der Sportjustiz und befolgten deren Auflagen, sie gingen in Therapie und führten zahlreiche Gespräche mit jungen Fußballern, vor den Tücken der Spielsucht warnend.

Fagioli war nach Ablauf seiner Sperre bereits Teil des EM-Kaders, Tonali kehrt erst jetzt in die Nationalelf zurück. Am vergangenen Sonntag feierten die Fans von Newcastle United seine Rückkehr nach zehnmonatiger Sperre mit atemberaubendem Enthusiasmus, den auch Spalletti gut gebrauchen könnte.

Mit der Nationalmannschaft allerdings, zu der die Mehrheit der Landsleute inzwischen ein unterkühltes Verhältnis hat, wird das nur über Erfolge gehen. An diesem Freitag treten die Italiener im Pariser Prinzenpark gegen Mbappé, Dembelé und Co. an. Seit 70 Jahren hat Italien kein Spiel mehr in Frankreich gewonnen. Ein einfacher Neustart sieht anders aus.

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