Vor 80 Jahren, im September 1943, begangen SS-Männer der berüchtigten „Leibstandarte SS Adolf Hitler“ im Dorf Meina am italienischen Lago Maggiore ein Massaker an Juden. Insgesamt wurden 57 Menschen ermordet. Maite Billerbeck ist die Großnichte des Haupttäters, dem damals befehlshabenden SS-Offizier Hans Röhwer. Seit 10 Jahren beschäftigt sich die 54-jährige Psychologin mit diesem Teil ihrer Familiengeschichte. Am 23. September bat sie bei einem Gedenkakt in Meina als Großnichte des Haupttäters um Verzeihung. Ein Gespräch über den Sinn der Aufarbeitung schwieriger Familiengeschichten.
Was hat Sie bewegt, sich so viele Jahre später mit den Taten ihres Großonkels auseinander zu setzen?
Billerbeck: Ich bin mir in einem langen inneren Prozess bewusst geworden, dass die Aufarbeitung der eigenen Geschichte notwendig ist. Wir kommen eigentlich nicht an ihr vorbei, wenn wir aus dem Kreislauf von transgenerationaler Weitergabe und der Last von Schuld und Scham auf Seiten der Täter-Nachkommen und der Last einer traumatischen Erbschaft auf Seiten der Opfer-Nachkommen herauskommen wollen.
Was bedeutet das konkret?
Es geht darum, ein Trauma zu integrieren. Auch auf Seite der Täter-Familien. Traumatische Geschehnisse, die nicht integriert werden, können über Generationen hinweg Wirkung entfalten. Ich habe das am eigenen Leib gespürt, mit unerklärlichen Scham- und Schuldgefühlen. Ich hatte sie seit ich denken kann.
Im September haben Sie an einem Gedenkakt in Meina mit über 1000 Menschen teilgenommen. Was ist dort passiert?
Es war überwältigend. Ich war eingeladen worden, eine kleine Rede zu halten. Anschließend kamen viele Menschen auf mich zu, die sich bedankt haben für meine Worte und mein Kommen. Ich stand da als Großnichte meines Großonkels. Viele waren dankbar und gerührt, dass sich endlich jemand von der Täterseite dieser Vergangenheit stellte. Auch oder vielleicht gerade nach so langer Zeit. Auf so eine Reaktion war ich überhaupt nicht gefasst. Ich habe gemerkt, wie wichtig die Anerkennung ist, dessen, was geschehen ist.
Hat Sie die Reaktion in Meina erleichtert?
Ja, es hat auch mir gut getan. Eine Starre hat sich gelöst. Ich hatte das Glück, dass ich der Tochter einer Überlebenden des Massakers begegnen konnte, Rossana Ottolenghi.
Sie sind als Großnichte verwandtschaftlich relativ weit entfernt von Hans Röhwer. Warum beschäftigt ausgerechnet Sie diese Geschichte so?
Warum ich und nicht andere Familienmitglieder das Thema angegangen sind, kann ich nicht genau sagen. Die Vergangenheit meines Großonkels wurde totgeschwiegen. Ich bin später mit dem Phänomen der transgenerationalen Weitergabe von Gefühlen und Traumata in Berührung gekommen und hatte verschiedene Erlebnisse, die mich immer wieder zurück geworfen haben. Irgendwann wurde klar: Meine Schuld- und Schamgefühle hatten ihren Ursprung in meiner Familiengeschichte.
Das müssen Sie genauer erklären!
Ich habe mich früher als schwarzes Schaf der Familie gefühlt, auch weil ich ganz andere politische Einstellungen hatte als beispielsweise mein Vater. Auf einer Reise nach Costa Rica ist etwas Eigenartiges passiert: Amerikanische Touristen bemerkten meinen deutschen Akzent und beschimpften mich völlig grundlos als „Nazischlampe“. Anstatt empört zu reagieren habe ich mich nur geschämt.
Wie erklären Sie sich diese Reaktion?
Mir muss auf einer unbewussten Ebene klar gewesen sein, was passiert war, aber über Jahrzehnte hinweg tabuisiert wurde. In der Familie kam diese schwere Schuld überhaupt nicht vor. Meine Mutter hatte Briefverkehr mit ihrem Onkel, als der vor einem Strafprozess gegen ihn in Osnabrück ab 1964 in Untersuchungshaft saß. In den Briefen wurde das Thema völlig ausgespart. Als 1997, zwei Jahre nach seinem Tod die Sprache auf seine Vergangenheit in Italien kam, wischte meine Großmutter alles mit einem Satz beiseite: „Ich kann das nicht glauben, er war so ein toller Mensch!“ Auch ich habe lange das Narrativ vom guten Großonkel nicht in Frage gestellt.
Wie sind Sie weiter mit dem Thema umgegangen?
In meiner Ausbildung zur Psychoanalytikerin 2013 berichtete eine Kollegin von ihrem Opa, der in der SS war. Da hat’s bei mir geklingelt. Da war doch was, dachte ich. Ich habe dann erstmal bei Wikipedia nachgeschaut und da stand zu lesen: Hans Röhwer war 1943 an der Massenermordung von Juden am Lago Maggiore beteiligt.
Was war ihre Reaktion?
Ich war total erschüttert und beschämt. Ich war tieftraurig bis hin zu depressiven Verstimmungen, die ich auch schon von früher kannte. Ein Jahr später bin ich dann erstmals nach Meina gefahren. Ich habe den Gedenkstein mit den Namen der Toten am Ufer besucht und dort innegehalten. Es war schwer auszuhalten. Lange konnte ich nicht über dieses Thema sprechen. Vier Jahre später hatte ich dann in einer Weiterbildung zur Paar- und Familientherapeutin mein „coming out“. Ich habe in der Gruppe von meinem Großonkel, seinen Taten und dem Tabu in meiner Familie erzählt. Dass hat sehr gut getan und war der Beginn, offen mit dem Thema umzugehen.
Wie ging es weiter?
Ich habe in Archiven recherchiert um mehr zu erfahren. Es kam der Wunsch auf: Ich möchte dem irgendetwas entgegensetzen. Ein Jahr später entwickelte ich mit meinem Lebenspartner Andreas Peer Kähler ein Konzept. Wir wollten der ermordeten Juden gedenken und haben in Berlin den gemeinnützigen „Verein zur Förderung der Erinnerungskultur e.V.“ gegründet. Er schrieb ein Musikstück, das Anfang Oktober uraufgeführt wurde und in dem die Namen aller Ermordeten verlesen wurden. Ich habe damals auch nach Überlebenden oder ihren Angehörigen gesucht.
Inzwischen haben Sie Rossana Ottolenghi, die Tochter der Überlebenden Becky Behar, kennen gelernt. Wie war ihre Begegnung?
Wir hatten erst email-Austausch. Als Rossana erfuhr, dass wir diesen Sommer an den Lago Maggiore fahren würden, kam die Idee auf, sich zu treffen. Wir haben einen ganzen Tag zusammen verbracht und erzählt. Rossana hat mich sehr warmherzig und mit offenen Armen empfangen. Es entstand ein reger Austausch. Wir haben uns beim Gedenkakt Ende September in Meina wieder getroffen und Rossana kam jetzt auch nach Berlin. Es ist eine ganz besondere Beziehung.
Wie geht Ihre Familie heute mit dem Thema um?
Eine Tante und eine Cousine interessieren sich. Der Rest eigentlich nicht, sie finden es gut, dass ich mich darum kümmere. Andere fragen mich: Was hast du für ein Problem damit?
Und, was ist denn Ihr Problem mit dieser Geschichte?
Ich habe an Scham- und Schuldgefühlen und manchmal sogar an depressiven Verstimmungen gelitten. Die verstärkten sich teilweise im Zuge der Beschäftigung mit dem Massaker. Manchmal machte ich zwei Schritte nach vorne und dann wieder zwei zurück. Als ich das Phänomen der transgenerationalen Weitergabe von Traumata und Gefühlserbschaften kennenlernte, setzte sich langsam alles wie ein Puzzle zusammen. Meine depressiven Stimmungen haben sich aufgelöst.
Was passiert, wenn solche Traumata in Familien tabu bleiben?
Viele Menschen wissen gar nicht, warum sie bestimmte Verhaltensmuster haben. Gefühle wie Trauer oder Scham werden abgekapselt. Aber das äußert sich dann eben oft in depressiven oder Angst-Zuständen. Manchmal gibt es auch unerklärliche Schmerzstörungen, die ohne medizinischen Befund bleiben. Die andere Form ist, dass ungelöste Themen nach außen projiziert werden, in der Form von Hass, Wut und Ausgrenzung.
Sie denken, extremistische Bewegungen wie die AfD haben soviel Zulauf wegen nicht aufgearbeiteter Familiengeschichten aus der NS-Zeit?
Sicher ist das nicht der einzige Grund. Aber ich bin mir sicher, dass in vielen deutschen Familien weiterhin Tabus gepflegt werden, die seelische und praktische Auswirkungen haben. Ich denke, das geht sogar bis in die Schulen hinein, in Themen wie Mobbing.
Die Integration von Traumata, auch auf Seite der Täterfamilien, der Blick in die Familiengeschichten ist also nicht nur persönlich, sondern auch gesellschaftlich gesehen gesund und relevant?
So könnte man das sagen, ja. Wenn man nicht weiß, woher manche Verhaltensmuster oder Störungen kommen, lohnt es sich, die Familiengeschichte genauer unter die Lupe zu nehmen. Es wäre wichtig, diese Fähigkeit zur Introspektion zu entwickeln. Es gibt da auch Seminare, die bei der Recherche weiterhelfen. Der Arbeitskreis für intergenerationelle Folgen des Holocaust (Pakh) bietet so etwas zum Beispiel an. Es istwichtig, ein Bewusstsein für diese Thematik zu schaffen. Wir wollen uns im Verein für Dialogarbeit von Täter- und Opfernachkommen engagieren, auch zusammen mit Rossana Ottolenghi.