Das Wort Blutgrätsche gibt es nicht auf Italienisch, und auch nicht auf Spanisch. Es gibt im Süden allerdings ein Kürzel, das diesem Ausdruck nahekommt: DDR. Damit verbinden Fußballfans in Italien und in Argentinien nicht etwa die Deutsche Demokratische Republik, sondern den Mittelfeld-Star Daniele De Rossi. Der Italiener, bis vor Kurzem noch das letzte Aushängeschild des AS Rom, hat sich eine stilisierte Blutgrätsche auf seine linke Wade tätowiert, sein Markenzeichen. Seit diesem Sommer sind De Rossis Einsatzfreudigkeit und seine Tätowierung in der Superliga Argentina zu bewundern. Seit August steht der Römer in den Diensten des legendären Club Atlético Boca Juniors.
Noch nie ist ein europäischer Fußballstar den umgekehrten Weg gegangen, den normalerweise südamerikanische Kicker einschlagen, wenn sie es geschafft haben – von der Südhalbkugel nach Europa. De Rossi, der bei der WM 2006 in Deutschland als 24-Jähriger Weltmeister mit Italien wurde, ging als erster diesen Weg. Erst eine bandiera in Rom, eine Identifikationsfigur, der seinem Verein (fast) lebenslang die Treue hält. Jetzt ein Pionier aus Leidenschaft für authentischen Fußball? So sehen ihn seine Fans. Dass der Römer aus der Hafenstadt Ostia bereits 36 Jahre alt ist und vor dem Karriereende steht, macht das Abenteuer nicht weniger reizvoll. De Rossi, der von den Ultras verehrte Ultra auf dem Spielfeld, hat nicht lange gebraucht, um seine Visitenkarte auch im argentinischen Fußball abzugeben.
Blutgrätsche als Tattoo
Im Liga-Spiel gegen Banfield, dem zweiten Einsatz des Italieners für Boca, versuchte De Rossi mit einem gewagten Sprung und ausgestrecktem linken Bein einen Ball abzufangen. Im Kung-Fu-Stil wollte er den Ball entschärfen, traf aber mit dem ausgestrecktem Fuß seinen Mitspieler, Boca-Kapitän Paolo Goltz. Was für ein Einstand! De Rossi wie er leibt und lebt und manchmal eben auch knapp daneben langt. Die argentinische Presse wusste erst einmal nicht, ob sie angesichts des gewalttätigen Einsatzes die Hände über dem Kopf zusammen schlagen oder in Begeisterungsstürme ausbrechen sollte. Die argentinische Ausgabe der Sportzeitung AS entschloss sich in einer Mischung aus Anerkennung und Befremdung von einer „patada tremenda“ zu schreiben, einem fürchterlichen Tritt.
De Rossi ist längst angekommen bei Boca. Eingewöhnungszeit? Braucht dieser Mittelfeld-Abräumer nicht. Man hat den Eindruck, dass da zwei offenbar zusammen passen. Hier der 117-fache italienische Nationalspieler, der seine gesamte bisherige Karriere beim AS Rom zubrachte. Dem Verein mit den chaotischsten Verhältnissen in der Serie A und nicht zuletzt mit ausgesprochen fanatischen Tifosi. Und dort der argentinische Traditionsverein Boca, Inbegriff von Leidenschaft, Enthusiasmus und Wahnsinn im südamerikanischen Fußball, dem es ja sowieso schon nicht an Emotionen mangelt. Einsatzfreudige Spieler wie De Rossi werden hier verehrt. Italien und Argentinien, das ist schon aufgrund der vielen italienischen Auswanderer eine besonders enge Verbindung, Boca wurde 1905 von italienischen Immigranten aus Genua gegründet. Ein „suggestives Abenteuer“ nannte die Gazzetta dello Sport De Rossis Entscheidung, sich eine Spielzeit lang den Boca Juniors anzuschließen.
Vom Tiber an den Rio de la Plata
Was aber hat De Rossi an den Rio de la Plata verschlagen? Der Römer aus der Küstenstadt Ostia, 30 Kilometer südwestlich der italienischen Hauptstadt gelegen, war nie ein Mann der großen Worte. In Buenos Aires wirkte er aber gleich besonders gelöst, vielleicht weil er nach 18 Jahren bei der Roma auch die pesantezza, die Schwere seiner Heimat Rom erstmals abgeschüttelt hatte. „Ich mag es hier so gerne, weil es dem sehr Ähnlich ist, was ich kenne“, sagte De Rossi über Buenos Aires und Boca. „Die Leute sind verrückt nach Fußball, verrückt nach der eigenen Mannschaft, es ist eine Wahnsinns-Liebe.“
De Rossi debütierte im Jahr nach der letzten Meisterschaft 2001 in der ersten Mannschaft des AS Rom. Bei der Associazione Sportiva stand De Rossi im Schatten der unumstrittenen Club-Ikone Francesco Totti und firmierte jahrelang als capitan futuro, als zukünftiger Kapitän, ehe er erst Ende 2017 hauptamtlich die Kapitänsbinde von Totti übernahm, im stolzen Fußballeralter von 34 Jahren. Im Frühjahr teilte ihm das Management mit, dass man nicht mehr mit ihm als Spieler plane. 615 mal war er für den AS Rom angetreten, gerade einmal zwei Pokalsiege sprangen dabei heraus, nicht mehr. Rom ist kein einfaches Pflaster für Titel oder geordnete Verhältnisse, dafür aber für Emotionen. Ähnlich wie Boca. Als De Rossi die verschiedenen Angebote abwägte, die ihm vor dieser Saison unterbreitet wurden, soll sein persönlicher Physiotherapeut ihm täglich zugesichert haben: „Daniele, am Ende landest Du doch sowieso bei Boca.“
Stelldichein mit Maradona
Sein ehemaliger Teamkollege Nicolas Burdisso, inzwischen Sportdirektor bei Boca, war es, der De Rossi schließlich erfolgreich nach Buenos Aires lotste. Der 36-jährige Italiener unterschrieb dort einen Ein-Jahres-Vertrag und spielt dort mit früheren Serie-A-Größen wie Carlos Tevez oder Mauro Zarate in einer Mannschaft, die sich anschickt Liga und Copa Libertadores, die südamerikanische Champions League zu gewinnen. Statt Millionen in China oder in den USA zu scheffeln, hat De Rossierneut die Leidenschaft gewählt. So lautet die romantisierende Interpretation des Transfers. Ein Spieler-Original, Identifikationsfigur der kompromisslosesten Ultras, der im Guten wie im Schlechten selbst nie fähig war, seine Emotionen ganz zu zügeln, wechselt von einem unvergleichlichen Traditionsverein zum anderen. Es passt in diese Story, wenn frühere Roma-Mitspieler De Rossis erzählen, dass ihr Kollege schon damals in der Kabine entgeistert Youtube-Clips von Boca-Fangesängen anguckte und diese dann auch selbst mitanstimmte.
Und dann ist da noch die Historie, deren Teil De Rossi ja selbst bereits ist. Der Italiener schwärmte seit seiner Ankunft Ende Juli in Buenos Aires bereits mehrfach von Diego Armando Maradona, dessen Rückkehr zu den Boca Juniors im Jahr 1995 er als Jugendlicher im TV verfolgt hatte. Bei seiner Vorstellung im Stadion der Boca Juniors, der legendären Bombonera, posierte er in der Ehrenhalle neben einer Statue Maradonas und referierte begeistert über die Arena und ihre Fans. Die Bombonera sei „das einzige Stadion, das mich begeistert hat, auch wenn ich noch nie dort war“, sagte De Rossi. Die Xeneizes, so die Selbstbezeichnung der Boca-Anhänger in Anlehnung an die Herkunft der Clubgründer aus Genua (genovesi), sind weltbekannt. Die Stadion-Bilder aus der Fußball-Pralinenschachtel mit Papierschnipseln, Rauch und enthusiastischen Gesichtern kennt jeder Fußballfan, auch De Rossi bewunderte sie aus der Ferne. Jetzt ist er selbst Teil des Spektakels. Am 1. September spielte der Italiener seinen ersten Superclásico. Das Derby zwischen River Plate und Boca Juniors endete unspektakulär mit 0:0.
In den Abgründen des argentinischen Fußballs
Boca gegen River steht nicht nur für Momente großen Sports, sondern auch für die Abgründe des argentinischen Fußballs. 2015 griffen die Xeneizesdie Spieler von River mit Pfefferspray an, Boca wurde disqualifiziert. Das letztjährige Finale der Copa Libertadores zwischen Boca und River wurde in Madrid ausgetragen, weil River-Anhänger zuvor den Boca-Bus mit Steinen torpediert hatten. De Rossi kennt diese Verhältnisse nur zu gut aus Rom. Regelmäßig zetteln die Roma-Tifosi Straßenschlachten an, immer wieder gibt es auch antisemitische Beschimpfungen. Messerstechereien sind beinahe an der Tagesordnung. Nichts Neues für De Rossi, der selbst schon mit der Organisierten Kriminalität auf Tuchfühlung gekommen war. Der Vater seiner Ex-Frau Tamara wurde 2008 bei Clan-Auseinandersetzungen ermordet, im Skandal Mafia Capitale geriet De Rossi wegen fragwürdiger Kontakte zu einem Boss der römischen Unterwelt in die Schlagzeilen. Manche Menschen im abergläubischen Rom behaupteten damals, De Rossi ziehe das Unglück buchstäblich an.
In Buenos Aires hingegen soll er Glück bringen und die schmerzhafte Vergangenheit vergessen machen. Der Stachel der Niederlage gegen River Plate im Libertadores-Finale von 2019, der sportliche Tiefpunkt in der Geschichte der Boca Juniors, sitzt tief. Die spektakuläre Verpflichtung des Italieners hat die Wunde geschlossen, zumindest vorübergehend. „Auf einmal ist wieder von Boca die Rede“, schrieb La Nación. Und auf einmal ist auch wieder von Daniele De Rossi die Rede. Sein Abgang beim AS Rom gegen den Willen der Tifosi war ein Trauerspiel, auch wenn nachvollziehbar ist, dass die sportliche Leitung dem 35-Jährigen keinen neuen Vertrag als Spieler, sondern nur noch als Manager geben wollte. De Rossi lehnte ab. Erst der melodramatische Abgang von Francesco Totti, der inzwischen auch als Roma-Manager hingeschmissen hat. Dann die Affäre De Rossi, die sogar in wilde Spekulationen der römischen Presse über ein Ende der Freundschaft Totti-De Rossimündete. Der AS Rom entledigte sich innerhalb von zwei Jahren seiner wichtigsten Identifikationsfiguren. Zu welchem Preis, weiß man noch nicht.
Sechs Taufen auf den Namen Daniele
Jetzt scheinen jedenfalls alle glücklich zu sein. Der AS Rom, Boca und De Rossi. Als der Spieler am 24. Juli, seinem 36. Geburtstag nach 13-stündigem Flug am Flughafen Ezeiza von Buenos Aires landete, bereiteten ihm trotz der frühen Morgenstunde Dutzende Boca-Anhänger einen begeisterten Empfang. Wie die Lokalpresse berichtete seien in jenen Tagen in Buenos Aires mindestens sechs Kinder zu Ehren der Neuverpflichtung des Italieners auf den Namen Daniele getauft worden. Sogar ein auf der Landwirtschaftsausstellung von Buenos Aires gerade frisch geborenes Kalb von 27 Kilogramm wurde nach dem Italiener benannt. Es heißt „De Rossi“. Beim ersten Einsatz des Weltstars im Pokalspiel gegen Almagro, bei dem De Rossi nach 27 Minuten gar per Kopf das vorübergehende 1:0 erzielte, gab es mehrere Tifosi, die sich als Verehrer des Italieners outeten. „DDR Core de Roma“ (DDR Herz von Rom) stand auf einem italienischen Spruchband. De Rossi holte sich für eine Blutgrätsche eine Gelbe Karte und beschwerte sich beim Schiedsrichter, das sei doch schließlich sein allererstes Foul gewesen. Andere Länder, andere Sitten. „Ole ole ole ole, tano, tano“, sangen die Boca-Fans, als der Italiener nach 76 Minuten ausgewechselt wurde. „Tano“ steht in Buenos Aires für „Italiener“. Prompt bekam Boca den Ausgleich und verlor im Elfmeterschießen gegen den Zweitligisten.
Sogar beim Saisondebüt des AS Rom in der Serie A gegen Genua Ende August sah man Roma-Tifosi gesichtet, die das gelb-blau gestreifte Boca-Trikot mit der Nummer 16 und der Aufschrift „De Rossi“ trugen. De Rossi wird weiter in Rom verehrt, auch wenn er nun andere Farben trägt, die Farben seines früheren Idols Maradona. Es war Mitte August, als sich schließlich ein Kindheitstraum De Rossis erfüllte. Zusammen mit Boca-Sportdirektor Burdisso und Boca-Präsident Daniel Angelici wurde der Italiener von Maradona in dessen holzgetäfelten Stadtresidenz in Buenos Aires empfangen. Zwei Stunden saß De Rossi bei Kaminfeuer und Mate-Tee auf Maradonas Wohnzimmersessel. „Ich war beim Größten aller Zeiten und er empfing mich wie einen uralten Freund“, erzählte De Rossi anschließend. Niemals werde er diese Begegnung vergessen. Fast schon unterwürfig sagte er schließlich, er hoffe, dass er die Erwartungen des von Maradona geliebten Vereins erfüllen könne.
Ganz klein
Da war der große De Rossi auf einmal ganz klein. Ein Kind von 36 Jahren, das zu seinem vom Leben, den Auf und Abs und nicht wenigen Exzessen gezeichneten Idol aufblickte. Ein Fußballmärchen fand da scheinbar sein Happy End. Auch wenn die schönsten Geschichten vorbei gehen und manchmal zum Ende hin doch noch eine etwas weniger schöne Wendung nehmen. De Rossis Vertrag läuft bis Frühsommer 2020, hat aber verschiedene Klauseln, etwa die Möglichkeit, Boca schon im März wieder zu verlassen. Dann beginnt die Major League Soccer (MLS) in den USA. Vor allem Los Angeles Galaxy mit Zlatan Ibrahimovic sei an einer Verpflichtung DeRossis interessiert, heißt es. Die Familie De Rossi soll auch nicht abgeneigt sein. Die Geschichte vom leidenschaftlichen Fußballer und den aufregenden Traditionsclubs nähme dann ein jähes Ende.