Es gibt Geschichten, die von Gerechtigkeit handeln und etwas komplizierter sind. Elvio Fassones Geschichte zum Beispiel. Fassone ist heute 81 Jahre alt, er war Senator im italienischen Parlament, zuvor Richter am Obersten Gerichtshof Italiens und Strafrichter. 1988, im Alter von 50 Jahren, war der Jurist aus dem Piemont Vorsitzender in einem großen Mafia-Prozess in Turin. 242 Sizilianer eines Clans aus Catania waren angeklagt, es ging um Mord und Erpressung, das Verfahren kam nur mühsam voran, weil Anwälte und Angeklagte alles versuchten, um den Prozess zu behindern. Dem vorsitzenden Richter Fassone kam damals ein Einfall, der sein Leben verändern sollte. Er gab bekannt, dass er nach Verhandlungsschluss immer noch eine Weile im Gerichtssaal warten würde und bereit sei für Anfragen persönlicher Art.
Das Klima im Gerichtssaal änderte sich. Die Gefangenen in Untersuchungshaft konnten sich noch im Gericht an den Richterwenden und ihre Bitten vortragen: die Bitte um Ermöglichung eines Zahnarzttermins in der Untersuchungshaft oder um einen wichtigen Familienbesuch im Gefängnis. Der Prozess dauerte mehr als zwei Jahre. Der Richter, Exponent eines Staates, den die Mafia als Feind wahrnimmt, hatte plötzlich ein menschlicheres Antlitz. So kam es auch, dass einer der Hauptangeklagten sich nach Verhandlungsschluss an Fassone wendete mit folgenden Worten:
Den Richter beschleichen Zweifel: Ist das Gerechtigkeit?
Herr Richter, haben Sie einen Sohn?“, fragte der 27-jährige Boss, dem hier der Name Salvatore gegeben werden soll. „Ich habe drei Söhne“, antwortete Fassone, „der Älteste ist so alt wie Sie“. Salvatore entgegnete: „Wenn Ihr Sohn dort aufgewachsen wäre, wo ich herkomme, dann säße nun er hier und ich wäre an seiner Stelle.“ Der Richter entgegnete, was ein Richter in dieser Situation sagen muss. Dass jeder Mensch letztlich selbst mitentscheiden kann, ob er auf die rechte oder die schiefe Bahn gerät. Dass Herkunft zwar ein wichtiger, aber nicht alles entscheidender Faktor ist. Am Ende des Prozesses verurteilten Fassone und seine Kollegen 20 Mafiabosse, die zahlreiche Morde zu verantworten hatten, zu lebenslanger Haft. Salvatore, einer der Hauptverantwortlichen, war auch darunter.
Zuhause beschlichen den Richter Zweifel. Erstmals hatte er lebenslange Haftstrafen verhängt und damit das Leben anderer Menschen maßgeblich geprägt, auch wenn die ursprüngliche Verantwortung natürlich bei den Tätern lag. „Als Richter hatte ich von der Gesellschaft das Mandat Urteile zu fällen. Das hatte aber dennoch Auswirkungen auf mein Innenleben“, erzählt Fassone heute. „Bin ich wirklich legitimiert, weiteres Leid zu produzieren?“, fragte sich der Richter im Hinblick auf die jahrelangen Haftstrafen, die er angeordnet hatte. Fassone ist überzeugt, dass sich viele seiner Richter-Kollegen dieselben Fragen stellen. Er weiß aber auch, dass unter Strafrichtern solche Gedanken „betäubt“ würden, um im Alltag zu bestehen und die Anforderungen der Gesellschaft nach dem, was gerechte Strafe genannt wird, zu erfüllen.
Zuhause grübelte Fassone über die unvermeidbaren, lebenslangen Haftstrafen, die er verhängt hatte. Der Satz des Mafioso Salvatore ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Ist das Leben wirklich eine Lotterie, in dem einer die Niete erwischt und ein anderer den Hauptgewinn, fragte sich Fassone. Der Richter, der sich zwar im Rahmen der Gesetze bewegt, aber doch so etwas wie die letzte Instanz auf dem Weg zur Gerechtigkeit sein soll, stellte sich Fragen über Fragen. Die Gewissheit des Rechts wurde in ihm brüchig.
Täter und Opfer
Als seine Frau ihren Mann, den zweifelnden Richter, so erlebte, riet sie ihm: „Schreib Salvatore doch einen Brief!“ Ein Richter, der seinem Verurteilten schreibt? Verschwimmen da nicht die Grenzen zwischen Tätern und Opfern? Muss sich die personifizierte Gerechtigkeit nicht hart zeigen und sich klar abgrenzen? Fassone griff dennoch zu Stift und Papier und schrieb Salvatore einen Brief ins Gefängnis. Seit 31 Jahren dauert der Briefwechsel zwischen Richter und Verurteiltem nun an. Unter dem Titel „Fine pena: ora.“ (Ende der Strafe: jetzt) hat Fassone ihn 2015 als Buch auf Italienisch veröffentlicht.
Seit der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg Anfang Oktober die italienische Praxis des „Lebenslang mit Hinderungsgrundes“ als Verstoß gegen die Menschenrechte beurteilte, hat die Frage wieder an Aktualität gewonnen. Das Gericht entschied, dass auch die Verantwortlichen für schwerste Verbrechen, die nach jahrelanger Haft Besserung und Veränderungswilligkeit zeigen, Hafterleichterungen bekommen müssen. Es ist ein Urteil, das im Kern feststellt: Wenn es bei Menschen, die wegen ihrer furchtbaren Verbrechen zuweilen als „Monster“ bezeichnet werden, Anzeichen für einen Wandel gibt, müssen Staat und Gesellschaft diesen Veränderungen Rechnung tragen. Er bedeutet: Wenn sich das Gute trotz aller Schuld wieder zeigt, darf es nicht ignoriert werden. In Italien gibt es 1255 Gefangene mit lebenslanger Haftstrafe, die auch nach Jahren keine Verbesserung ihrer Haftbedingungen bekommen, weil sie nicht mit der Justiz zusammenarbeiten. Vor allem Mafiosi und Terroristen sind von der Maßnahme betroffen. Italiens Parlament muss diesen Ball nun aufnehmen.
Fassone fordert nicht etwa die Abschaffung der lebenslangen Haft. „Es ist richtig, dass es dieses Mittel gibt, denn Delikte, die schwere Wunden in der Gemeinschaft hinterlassen haben, müssen sanktioniert werden“, sagt der 81-Jährige. Er behauptet aber auch: Die Situation des Gefangenen müsse überprüft werden im Hinblick auf die Frage, ob eine Besserung eingetreten ist. Was für eine Person ist der Verurteilte heute? Eine Strafe müsse den Gestraften zur Besserung animieren.
Was ist der Sinn der Strafe?
Fassone schrieb in seinem ersten Brief an Salvatore von der Wüste, die nun vor dem Verurteilten lag. Er schrieb ihm, dass er trotz allem nicht seine Würde und vor allem nicht die Hoffnung verlieren solle. Fassone ging mit seinem unkonventionellen Brief insgeheim eine Wette ein, die lautete: Trotz seiner Verbrechen hat auch Salvatore eine zweite Chance verdient. Der junge Mann, der sein bisheriges Leben mit Morden, Auftragsmorden, brutalen Anordnungen und Erpressungen gefüllt hatte, könne vielleicht kein neuer Mensch werden, aber sich gewiss verändern. Das war Fassones Hoffnung. So lautete die Wette.
Der Richter schickte Salvatore ein Buch ins Gefängnis. „Siddharta“ von Hermann Hesse, ein Buch über die Wandlungsfähigkeit des Menschen. „Kein Mensch ist nur die Tat, die er begeht, kein Mensch bleibt immer gleich“, sagt der Richter. Das gilt für Siddharta ebenso wie für Salvatore. Salvatore, der sein ganzes Leben nur Prozessakten und nie ein Buch gelesen hatte und gewiss kein Intellektueller war, begann zu lesen. „Nach einer Seite habe ich Kopfweh, aber ich werde es zu Ende lesen“, schrieb der Sizilianer in seiner Antwort.
Ein stiller Pakt
Der Richter und sein Täter besiegelten einen unausgesprochenen Pakt: Veränderung gegen Begleitung. Fassone, der sich aus der Ferne um den Gefangenen kümmern würde, ihm beistehe und Salvatore, der einen neuen Weg einschlägt. Der Mafioso legte sich bald ins Zeug. Er lernte in der Haft Gärtnerei, wie man Computer bedient und machte eine Ausbildung zum Tischler. Die Zertifikate schickte er voller Stolz dem Richter. Der Pakt hielt. Salvatore schien gierig zu sein auf seinen Wandel und auf ein neues Leben ohne Kriminalität. Er gestand dem Richter in einem der vielen Schreiben auch den tiefen Grund seiner kriminellen Aktivität. Sein Bruder war Opfer eines Krieges zwischen Clans geworden. Als Boss das Ruder in Catania zu übernehmen, war Salvatores Antwort auf den Tod seines Bruders.
Und heute? Salvatore ist nach 36 Jahren immer noch in Haft. Er war länger im Gefängnis als draußen. Nur ein einziges Mal hat der Richter den Gefangenen in der Haft besucht. Seine Anwesenheit brachte Salvatore bei den Mithäftlingen Probleme. Sie witterten, dass da einer einen besonderen Draht zur Justiz hatte. Salvatore wurde verlegt, Fassone besuchte ihn nicht mehr. Er behauptet, die Bemühungen des Verurteilten seien vom Strafvollzug nicht ausreichend gewürdigt worden. Man hätte seinen Wandel erkennen und fördern müssen. Salvatore sei längst ein anderer Mensch. Stattdessen hat der Häftling auch heute keine Aussicht auf Hafterleichterungen.
Fassone mag Recht haben. Doch der Ex-Mafioso beging seinerseits einen verhängnisvollen Fehler. Er bekam eine zweite Chance, aber verspielte sie. Als er vor zehn Jahren einmal Freigang hatte, fuhr Salvatore nach Catania und vermittelte in einer Fehde zwischen verfeindeten Clans. Die Richter urteilten, der Mann sei weiterhin in die Mafia-Organisation verwickelt. „Es war Leichtsinn“, sagt Fassone. Seither hat Salvatore keinen Freigang mehr. Für ihn gilt weiter: Ein Ende der Strafe ist nicht in Sicht.