Auf Geheiß des italienischen Fußballverbandes liefen bei den Spielen der Serie A am Mittwochabend Mannschaftskapitäne und Schiedsrichter mit Literatur in der Hand auf den Platz. Manche hielten Primo Levis Shoah-Roman „Ist das ein Mensch?“ in Händen, andere das Tagebuch der Anne Frank, um die die jüngste Affäre im italienischen Fußball kreist. Einige der antisemitischen Aufkleber, die Ultras von Lazio Rom am vergangenen Sonntag im römischen Olympiastadion angebracht hatten, zeigten das 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen ums Leben gekommene Mädchen im AS-Rom-Trikot. Der Grund dieser absonderlichen Provokation: 72 Jahre nach Ende des Holocausts gilt jüdische Identität bei Fußballfans in Rom als Beleidigung.
Um dieser Geschichtsvergessenheit entgegen zu treten, mussten die Kapitäne am Mittwochabend in den Stadien einen Ausschnitt aus dem Tagebuch der Frankfurter Jüdin vorlesen, die sich mit ihrer Familie ab 1942 bis zur Deportation in einem Amsterdamer Hinterhaus versteckte. Die Spieler von Lazio Rom waren angewiesen worden, sich zum Aufwärmen vor dem Spiel beim FC Bologna ein T-Shirt mit dem Foto des Mädchens überzustreifen. Eine Gedenkminute für die Opfer der Shoah wurde abgehalten, auch vor den Partien in unteren Spielklassen.
Wie weit der Weg für Italiens Fußball aber noch ist, zeigt etwa die Reaktion der Ultras von Ascoli Calcio in der Region Marken. Beim Zweitligaspiel ihrer Mannschaft am Dienstagabend ignorierten die als rechtsradikal bekannten Anhänger die Holocaust-Gendenkminute ganz bewusst. Aus Protest blieben auch die meisten Lazio-Ultras dem Auswärtsspiel beim FC Bologna fern. Im italienischen Innenministerium weiß man: 85 von 382 Ultragruppierungen in Italien sind rechtsextrem und das nicht erst sei gestern. Die Entrüstung der Branche hat deshalb einen faden Beigeschmack.
In einem fragwürdigen Auftritt legte Claudio Lotito, Präsident von Lazio Rom, bereits am Dienstag einen Blumenkranz vor einer Holocaust-Gedenktafel an der römischen Synagoge nieder, als Reaktion auf die Aufkleberaktion seiner Tifosi. Die beiden brasilianischen Fußballprofis Felipe Anderson und Wallace Fortuna dos Santos mussten Spalier stehen, während Lotito sich vor der Presse zum Vorkämpfer gegen Xenophobie, Rassismus und Antisemitismus aufschwang. Lotito, so die Lokalzeitung Il Messaggero, soll seinen Besuch zuvor in einem Telefonat selbst als „Inszenierung“ bezeichnet haben. Der Blumenkranz wurde tags drauf im Tiber wieder gefunden. Die jüdische Gemeinde Rom hatte kühl auf den plakativen Besuch reagiert. „Die Gemeinde ist weder eine Waschmaschine noch ein Ort, an dem man einen Blumenkranz präsentiert und so alle Probleme löst“, sagte Oberrabbiner Riccardo Di Segni. Notwendig seien konkrete und repressive Initiativen.
Die Staatsanwaltschaft Rom ermittelt gegen 16 Verdächtige und ihre Aufkleberaktion in der Südkurve des römischen Olympiastadions. Darunter sind auch drei Minderjährige. Den Ultras drohen zudem lange Stadionsperren, auch der Verein Lazio Rom muss mit Sanktionen rechnen. Denn die Vorgeschichte der Aufkleberaktion hat es ebenfalls in sich. Weil die Anhänger vor Wochen zwei schwarze Spieler einer gegnerischen Mannschaft mit rassistischen Buh-Lauten beleidigten, war die Fankurve der Lazio-Fans im Olympiastadion für zwei Spiele gesperrt worden.
Die Vereinsführung umging dieses Verbot, indem sie für das Spiel gegen Cagliari Calcio am Sonntag den Dauerkartenbesitzern einmalige Tickets zum Preis von einem Euro für die gegenüberliegende Kurve verkaufte, in der bei Heimspielen des AS Rom der harte Kern der Roma-Fans zuhause ist. Die Lazio-Kurve war leer, wie von der Sportjustiz verfügt. Die Urheber der Sanktion konnten dank der Ticketaktion des Vereins stattdessen in der gegenüberliegenden Kurve ihr Unwesen treiben. Neben den Anne-Frank-Fotomontagen klebten sie dort Sticker wie „Romanista Jude“ oder „Romanista Schwuchtel“, Sprüche, die man seit Jahren über die ganze Stadt verteilt an Hauswänden lesen kann, auch in der entsprechenden Version der Lokalrivalen.
Kenner der Szene vermuten in Lotitos Ticketaktion, die unter dem scheinheiligen Motto „we fight racism“ lief, ein nicht ganz zufälliges Entgegenkommen. Der 60 Jahre alte Reinigungsunternehmer wagte zu Beginn seiner Amtszeit im Jahr 2004 eine Kraftprobe mit den Irriducibili („Unbeugsame“), dem rechtsradikalen Kern der Lazio-Ultras und untersagte ihnen das einträgliche Geschäft mit Merchandising-Produkten. Lotito wurde bedroht, er ist bis heute nur mit Leibwächtern unterwegs. Nach 13 Jahren der Konfrontation haben die Parteien inzwischen aber eine Art Burgfrieden erzielt, nicht zuletzt um den sportlichen Höhenflug der auf Platz vier der Tabelle stehenden Mannschaft nicht zu belasten.
Die Folge war ein neues Kapitel in der langen Liste antisemitischer und rassistischer Provokationen in der Serie A, die von den meisten Vereinen stillschweigend geduldet werden. Bei einem Lokalderby 1998 hissten die Irriducibili einen Banner mit der Aufschrift „Auschwitz eure Heimat, die Öfen euer Zuhause“. Der ehemalige Lazio-Spieler Paolo Di Canio erhob ab 2005 bei verschiedenen Spielen seiner Mannschaft den rechten Arm zum römischen Gruß, der italienischen Variante des Hitlergrußes. Selbst ein politischer Umtriebe unverdächtiger Spieler wie Miroslav Klose wurde von rechtsradikalen Lazio-Fans für ihre Zwecke instrumentalisiert. Im Oktober 2011 zeigten die Ultras einen Banner in der Kurve, auf dem sie in SS-Runenschrift die Nazi-Losung „Gott mit uns“ in „Klose mit uns“ umgeschrieben hatten. Ultras von Hellas Verona stimmten vor Wochen Sprechchöre auf Rudolf Hess an. Die Mailänder Clubs sind betroffen, Juventus Turin, der AS Rom. Lazio Rom hat nur den traurigen Primat der eklatantesten Aktionen.