Der Kauz hört auf

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.11.2017 - Die italienische Fußball-Legende Andrea Pirlo beendet seine Karriere

Dieser Abschied macht die Gegenwart nicht leichter. Italien ist vierfacher Fußballweltmeister und muss sich ab Freitag in zwei Play-Off-Spielen gegen Schweden die Teilnahme an der WM in Russland erst noch verdienen. Wenn nun einer der begnadetsten italienischen Fußballer der letzten Jahrzehnte endgültig die Bühne verlässt, ist der Blick in den Spiegel noch schmerzhafter. Andrea Pirlo hat seine Karriere als Fußballer beendet. Wenn er gegen Schweden vor dem Fernseher sitzen sollte und mit zittert, muss man es ganz nüchtern betrachten: Die glorreiche Vergangenheit guckt dann grauen Alltag.

Tröstlich ist, dass Pirlo schon vor zwei Jahren einen Teilabschied vollzog. Er war aus der Nationalelf zurück getreten. Nach dem verlorenen Champions-League-Finale 2015 mit Juventus Turin gegen den FC Barcelona, in Folge dessen der Spielmacher bittere Tränen vergoss, wechselte Pirlo in die amerikanische MLS. Beim New York City FC kämpfte der inzwischen 38 Jahre alte Italiener dann weniger mit aufdringlichen Gegnern, als mit seinem lädierten Knie. Gerade einmal 16 Einsätze absolvierte er in dieser Saison, am Sonntag reichte es nur für eine Einwechslung in der Schlussminute. Kurzeinsatz, Applaus und Standing Ovation der New Yorker waren ein unverhältnismäßiger Tribut an die fußballerische Lebensleistung dieses Spielers.

„Es ist nicht so, dass man bis 50 weitermachen kann“, hatte Pirlo schon im Oktober erkannt. Nach dem Ausscheiden in den Play-Offs mit New York City am Sonntag zog der Fußballer nun den endgültigen Schluss: „Nicht nur mein Abenteuer in New York geht zu Ende, sondern auch meine Reise als Fußballer“, schrieb er auf Twitter. „Wer weiß, wann wieder so einer wie Pirlo auf die Welt kommt“, fragte der Corriere della Sera. Die Sehnsucht nach besseren Zeiten war nicht zu überhören. Die Gazzetta dello Sport bedankte sich im Namen aller Tifosi. „Grazie Maestro“, titelte die Zeitung am Dienstag. Wenige italienische Spieler bekamen über die Grenzen der Serie A hinaus die Anerkennung, die Pirlo im letzten Abschnitt seiner Karriere entgegenschlug. Was sein Talent als Spielgestalter angeht, war der Mittelfeldspieler mit den italienischen Fußball- und Werbe-Ikonen Francesco Totti oder Alessandro Del Piero zu vergleichen. Pirlo taugte weniger zum Testimonial, war aber innovativer, genialer und erfolgreicher als Spieler.

Kontrastiert wurde sein Genie mit dem Phlegma des Anti-Helden. Zuhause verglichen sie ihn mit dem Stummfilm-Komiker Buster Keaton. Nicht, weil auch bei Pirlo alles schiefging, im Gegenteil. Es war Pirlos stoische Ausdruckslosigkeit, gepaart mit vergleichsweise langsamen, kurzen Beinen und einem schmalen Kreuz, das sein Können noch großartiger erscheinen ließ. Denn was ist schöner als ein unerwarteter, punktgenauer 70-Meter-Pass, aus dem Fußgelenk geschlagen von einem Kauz? „Er spricht mit den Füßen“, sagte Weltmeister-Coach Marcello Lippi über seine Untauglichkeit für den Showbetrieb. 2006 führte Pirlo Italien zum WM-Sieg in Berlin, bereits im Halbfinale gegen Deutschland war er mit seinem Pass auf den Torschützen Fabio Grosso die Schlüssel-Figur.

Seine Karriere begann der Norditaliener bei Brescia Calcio. Dass Meister nicht vom Himmel fallen, zeigten seine anschließenden Engagements bei Inter Mailand und als Leihspieler bei Reggina Calcio. Um sein einzigartiges Können zu dechiffrieren, bedurfte es schließlich eines Trainers wie Carlo Ancelotti beim AC Mailand. Dieser verstand, dass Pirlo als Spielmacher vor dem eigenen 16-Meter-Raum gefährlicher war als vor dem Strafraum des Gegners. Pirlo ließ sich zurückfallen und leistete sich den Blick auf das Spiel von hinten. Das war möglich wegen seiner einzigartigen Ballsicherheit, Technik und Übersicht. Der AC Mailand gewann so zweimal die Champions League (2003, 2007). Die letzten Jahre in der Serie A spielte Pirlo für Juventus Turin und führte das zuvor erfolglose Team zu vier Meisterschaften in Folge.

Seit Pirlo existiert die Position des Quarterbacks auch im Fußball, der seinen Protagonisten immer weniger Zeit und Raum lässt. Das kauzige Genie war mit seinen Pirouetten vielleicht der letzte, der das Spiel wirklich an sich riss, anstatt ihm atemlos hinterherzurennen.

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