Das Publikum im mit 40 000 Zuschauern ausverkauften Juventus Stadium hatte dem Gefühl, dass es 19 Jahre nach dem letzten Gewinn der Champions League wieder einmal so weit sein könnte, schon vor dem Anpfiff Ausdruck gegeben. „It’s time“, es ist an der Zeit, war in überdimensionalen Lettern der Choreographie zu lesen. Auch aus italienischer Perspektive trifft diese Sicht zu. 2010 gewann mit Inter Mailand zuletzt ein Team der Serie A die Champions League. Juventus Turin hat sich stellvertretend für die Serie A Schritt für Schritt zur europäischen Spitze hochgearbeitet. 2015 stand das Team bereits im Finale des Wettbewerbs. Der FC Barcelona entschied das Match damals mit 3:1 Toren für sich.
Paulo Dybala stand damals noch in Diensten von US Palermo und war Monate zuvor noch in der zweiten italienischen Liga aktiv. Nur Experten war der Name des Argentiniers ein Begriff, darunter dem Sportdirektor von Juventus Turin. Beppe Marotta war Dybala im Sommer 2015 rund 40 Millionen Euro Ablöse wert, eine Summe, die die meisten Beobachter für übertrieben hielten. Am Dienstagabend wurden sie womöglich eines Besseren belehrt. Die Turiner Tageszeitung „La Stampa“ hatte dank Dybala „eher ein Märchen als ein Spiel“ gesehen. Will man im Bild bleiben, dann kam dem Argentinier darin die Hauptrolle des vom Froschkönig zum Prinzen gereiften Protagonisten zu. Bereits in der siebten Minute erzielte er mit einem Drehschuss, wie man ihn eher vom Hallenfußball kennt, die Führung für Juventus. In der 22. Minute stand es schon 2:0, Dybala hatte eine Rückgabe von Mario Mandzukic an der Strafraumgrenze direkt verwandelt. Giorgio Chiellini traf per Kopfball zum 3:0 (55. Minute). Vor allem beim zweiten Treffer des Argentiniers sah der deutsche Barcelona-Torwart Marc-André ter Stegen schlecht aus. Für Dybala werden seither Superlative gesucht. „Ja, er ist der Nachfolger“, formulierte die „Gazzetta dello Sport“. Von Lionel Messi, versteht sich, der gegen Juventus wie ein hilfloser, vielleicht sogar endgültig gesunkener Gott am Fußballhimmel auftrat.
Die Ursache für diese Neuverteilung der Rollen lag im perfekten Mannschaftsspiel der Italiener. Im dritten Jahr bei Juventus Turin hat Trainer Allegri ein hungriges Kollektiv geschaffen, das für jede Spielsituation das rechte Mittel zu haben scheint. Juventus ist das Gegenmodell zum sich langsam erschöpfenden Ballbesitz-Fußball. Die Italiener zeigten am Dienstagabend einen ganzen Strauß an taktischer Variabilität: intensives Pressing, Konter, schnelles Passspiel – aber auch klassischen italienischen Catenaccio und eine Abwehrstärke, die ihresgleichen sucht. In neun Spielen in der Champions League musste Juventus erst zwei Gegentore hinnehmen. Im Kollektiv sind die Stars wie Dybala oder der am Dienstag unauffällige Stürmer Gonzalo Higuaín ebenso bedeutend wie etwa der unermüdliche Mandzukic oder der ordnende Sami Khedira, in dem die „Gazzetta dello Sport“ den „Stützbalken des Mittelfelds“ erkannte.
In einer Woche steht nun das Rückspiel im Camp Nou an. Dass Paris Saint-Germain, Barcelonas Gegner aus dem Achtelfinale, dort trotz eines 4:0-Siegs im Hinspiel 1:6 verlor und ausschied, ist den Turinern eine Warnung. „Einer italienischen Mannschaft wäre das nicht passiert“, hatte Juventus-Torwart Buffon schon vor dem Spiel am Dienstag behauptet. Ihm und seinen Kollegen ist zuzutrauen, dass sie diese Worte in Barcelona nun auch Wirklichkeit werden lassen.