Da stand sie nun mit ihrer grün-weiß-roten Schärpe. Im schwarzen Hosenanzug, roter Bluse, das lange braune Haar fiel locker auf ihre Schultern. Ihr Blick wirkte selbstbewusst und unsicher zugleich. Ein ungewohnter Anblick der Macht in Italien. Oder ist es eher Ohnmacht?
Virginia Raggi ist seit der Stichwahl am vergangenen Wochenende Roms neue Bürgermeisterin, die erste Frau überhaupt in diesem Amt. Die 37-jährige Anwältin hat jetzt einen Job, um den man sie nicht unbedingt beneidet.
Mittwochabend, erster Termin als neue Amtsinhaberin. Schwarze Limousinen rollen vor der Lateransbasilika an. Minister und Kardinäle steigen aus. Es folgen Handküsse und Verbeugungen, das alte Rom aus Politik und Klerus ist zusammen gekommen, um eine Etappe des Heiligen Jahres der Barmherzigkeit zu feiern, da darf natürlich auch das Stadtoberhaupt nicht fehlen. Raggi kommt im Mini-Elektroauto, natürlich ist das eine Geste. Später sitzt sie in der zweiten Reihe, wird von den anwesenden Ministern ignoriert, kaum einer begrüßt zunächst die Neue. Auch das gehört zum Programm. Sie stehen wie Feuer und Wasser zueinander, Raggi, der aufsteigende Stern der 5-Sterne-Bewegung und das politische Establishment.
Das ist die Ausgangslage. Die Bewegung des Komikers Beppe Grillo wird seit der zweiten Runde der italienischen Kommunalwahlen noch einmal ernster genommen in Italien, obwohl sie vor drei Jahren bei der Parlamentswahl bereits großen Erfolg hatte. 19 von 20 Duellen entschieden die Grillini am vergangenen Sonntag für sich, in Rom und in Turin geriet die Abstimmung zum Triumph. Raggi setzte sich mit 67 Prozent gegen ihren sozialdemokratischen Konkurrenten durch, die erst 32 Jahre alte Chiara Appendino holte 56 Prozent der Stimmen, obwohl sie nach der ersten Runde abgeschlagen zurück lag.
Nicht nur übernehmen zwei junge Frauen die Macht in maßgeblichen Metropolen Italiens, dem Hauptstadt-Moloch und der ehemaligen Industrie-Stadt. Die 5-Sterne-Bewegung testet den Ernstfall. Rom und Turin sind zwei Versuchslabore auf der nächsten Etappe zur Macht. Spätestens nach den Wahlen 2018 will die Grillo-Bewegung die italienische Regierung stellen. Alle Reflektoren sind auf die jungen Frauen gerichtet, die sich nun bewähren müssen. Die Anwältin Raggi hat die ungleich schwerere Aufgabe, denn Rom ist von Skandalen geprägt, die Missstände sind mit Händen zu greifen, die Verkrustungen enorm. In Turin hat der sozialdemokratische Vorgänger von Appendino solide Arbeit gemacht, es geht hier eher um Feinjustierung und vor allem darum, sich nicht zu blamieren.
Die 32 Jahre alte Appendino wirkt wie jemand, der selten Fehler macht. Sie gilt als fleißig, stammt aus dem Turiner Bürgertum, hat an der renommierten Mailänder Bocconi-Universität Marketing studiert, ihre Abschlussarbeit über Juventus Turin geschrieben und arbeitet im Management der Firma ihres Ehemanns. Als eine der ersten Maßnahmen will sie einen 5-Millionen-Euro-Fonds zur Förderung junger Arbeitsloser bereitstellen und ausgeraubte Senioren entschädigen lassen. Das ist keine Revolution, aber auch Feinde macht man sich so nicht. Turin dürfte das einfachere Testlabor für die 5 Sterne werden, denen man Unrecht tut, wenn man sie alleine als populistische Protestpartei abstempelt, die den Euro skeptisch beurteilt oder landesweit ein Grundgehalt für alle einführen will.
Virginia Raggi ist deshalb Bürgermeisterin geworden, weil in Rom (beinahe sinnbildlich für das ganze Land) alles aus den Fugen zu geraten scheint, und das seit Jahren. Die Korruption ist tief verwurzelt, einfache Stadtfunktionäre lassen sich regelmäßig für die Erteilung simpler Genehmigungen schmieren. Vom kürzlich ausgehobenen korrupten Netzwerk zwischen Politik und Unterwelt namens Mafia Capitale ganz zu schweigen. Die Straßen sind chronisch verstopft, der öffentliche Nahverkehr ein Desaster, die Mülltrennung steckt in den Kinderschuhen, die Tonnen quellen über. Ständig gibt es Streiks.
Die meisten städtischen Betriebe sind hoch verschuldet, die grassierende Vetternwirtschaft scheint jede Initiative zum Wohl der Allgemeinheit zu stoppen. Die Hauptstadt hat 13 Milliarden Euro Schulden, mindestens. Das ist die Ausgangslage für die Bürgermeisterin. Manche Gegner reiben sich schon die Hände, weil sie sicher sind, dass auch die junge Frau an den bestehenden Verhältnissen scheitern muss. Dann wäre nicht nur die ehemalige Stadträtin, sondern die gesamte 5-Sterne-Bewegung entzaubert.
Andererseits hatten die desillusionierten Bürger durchaus Gründe, einer Vertrauen erweckenden Unbekannten, die im Februar bei einer Online-Abstimmung mit gerade einmal 1764 Stimmen zur Spitzenkandidaten gekürt wurde, das Mandat zum Aufräumen erteilen. Die Urheberrechts-Anwältin verspricht Transparenz, Legalität, flüssigeren Verkehr, eine saubere Stadt, das Ende der Roma- und Sinti-Baracken am Stadtrand, sie sagt, es werde einige Zeit dauern, bis Ergebnisse vorliegen werden. Aber im Gegensatz zu den Vorgängern ist bei Raggi das Scheitern nicht vorgesehen. Die Wende ist das Pfund der Grillini, und ihre Hypothek. Geht der Plan auf und Raggi kann sichtbare Ergebnisse vorweisen, ist die 5-Sterne-Bewegung kaum noch aufzuhalten. Scheitert sie wie ihre Vorgänger, ist die Protestbewegung nur noch eine Partei unter vielen.
Dass es schwer werden wird, zeigten schon die Tage nach der Wahl. Die Suche nach erfahrenen Mitgliedern für die römische Stadtregierung dauerte länger als geplant. Der für Sport zuständige Assessor, ein ehemaliger Rugbyspieler, sorgte mit homophoben und rassistischen Parolen für Empörung. Raggi selbst muss sich verantworten, zwei Beratungstätigkeiten für eine kommunale Firma nicht öffentlich gemacht zu haben und wird deshalb attackiert. Die selbst gesetzten Maßstäbe sind hoch. Noch überdeckt der Zauber des Neubeginns viele Sorgen. 35 000 römische Gymnasiasten legen derzeit ihre Abiturprüfungen ab, die neue Bürgermeisterin wünschte ihnen via Twitter viel Glück. Auch Rom stehe vor einer ersten Prüfung mit dem Namen „Legalität“. „Wir werden es beide schaffen“, schrieb Virginia Raggi.