Raffaele Cantone lebt mehrere hundert Kilometer weit entfernt von den Mafiabossen, die ihm nach dem Leben trachten. Aber seine drei Leibwächter lassen den ehemaligen Staatsanwalt auch im gut gesicherten Justizpalast in Rom nicht einen Moment aus den Augen. Die Mafia vergisst nicht. Nach Ablauf seiner regulären Amtszeit als Antimafia-Staatsanwalt in Neapel arbeitet er schon seit 2007 in Rom in einer Sonderabteilung des Verfassungsgerichts. Bekannt wurde der 47 Jahre alte Jurist durch seine Ermittlungen gegen den mächtigen Camorra-Clan der Casalesi. Einige Erinnerungen hat Cantone nun in einem Buch („I Gattopardi“, Mondadori-Verlag) zusammengefasst. Die Beziehungen zwischen Mafia und Fußball spielen darin eine zentrale Rolle.
„Die Mafia interessiert sich vor allem deshalb für den Fußball, weil hier sehr viel Geld zirkuliert“, sagt Cantone und wird im Fünf-Minuten-Takt von Kollegen in der Bar des Justizpalasts gegrüßt. Seine Ermittlungen, auf denen auch der Bestseller „Gomorrha“ von Roberto Saviano fußt, haben ihn auch unter den Kollegen prominent gemacht. Die Mafia kontrolliere nicht nur Teile des Wettgeschäfts in Süditalien. „Fußballvereine wirken für viele Mafiosi wie Türöffner in eine Welt, zu der sie sonst nur schwer Zugang bekommen.“
Der bekannteste Fall, den Cantone im Jahr 2004 aufdeckte, ist der Versuch der Camorra, den Erstligaklub Lazio Rom zu übernehmen. Bei seinen Ermittlungen gegen das illegale Müllbusiness der Casalesi stieß Cantone eher zufällig auf den Versuch eines Camorra-Unternehmers, mit Hilfe des Strohmannes Giorgio Chinaglia, einem früheren Fußballprofi, die Mehrheit an Lazio zu erwerben. Das notwendige Geld sollte über ein Konto in Ungarn laufen. Cantone vermutet, der Unternehmer Giuseppe Diana aus Casal di Principe habe so illegal erworbenes Kapital waschen wollen.
Die Übernahme wurde durch die Ermittlungen gestoppt, Diana sitzt heute in Haft. „Besonders ein Aspekt wird an dieser Geschichte deutlich“, sagt Cantone: „Die Camorra hat mittels eines Fußballvereins versucht, in einen anderen Kosmos vorzudringen.“ Man müsse sich nur einmal ansehen, wer in Rom auf der Ehrentribüne sitzt: Einflussreiche Unternehmer, hohe Amtsträger, Minister, Menschen, die wichtige Entscheidungen treffen und über die Vergabe von öffentlichen Aufträgen entscheiden, Menschen, für die sich auch die Mafia interessiert. „Wenn es dir gelingt, Lazio oder Neapel zu übernehmen, hast du freie Auswahl an Gesprächspartnern“, sagt Cantone. „Ich habe Hinweise darauf, dass andere große Klubs im Fokus der Mafia sind, aber dafür gibt es nicht genügend Beweise.“
Die Mafia, das heißt die neapolitanische Camorra, die sizilianische Cosa Nostra und die ‚Ndrangheta Kalabriens, hat sich Cantone zufolge vor allem im niederklassigen Fußball des Südens eingenistet. In vielen Fällen ist der Fußball hier Mittel zur Machtdemonstration, Kontaktbörse und sogar ein Apparat zur Rekrutierung des kriminellen Nachwuchses. Cantone nennt auch den Namen eines aus kriminellem Milieu stammenden Serie-A-Spielers: „Von Giuseppe Sculli, heute bei Lazio Rom, wissen wir, dass er aus einer ‚Ndrangheta-Familie stammt und in einem Wettbetrug vermutlich eine tragende Rolle gespielt hat.“
„Wer einen Fußballverein kontrolliert, der bekommt eine Bühne für seine Aktivitäten. Die Mafia lebt auch vom Konsens der Bevölkerung“, sagt der ehemalige Ermittler und verweist auf die Fälle, in denen sizilianische oder kalabrische Amateurteams Trauerflor tragen oder Gedenkminuten abhalten – zu Ehren eines verstorbenen Bosses. Cantone nennt auch das Beispiel des kampanischen Lokalvereins Mondragonese, der es bis in die vierte Liga geschafft hatte. In den 90er Jahren war es dem Boss Renato Pagliuca gelungen, über den Fußballverein Kontakt mit Mario Landolfi, dem bekanntesten Politiker der Gegend, Kontakt aufzunehmen, der 2005 dann Minister im Kabinett Silvio Berlusconis wurde und gegen den die Justiz später ermittelte.
Auch in Sizilien und Kalabrien ist die Mafia in den Fußballbetrieb verstrickt. Während die Cosa Nostra die Jugendabteilungen der Vereine in Palermo kontrollierte, um junge Spieler der Clans zu plazieren und bei Weiterverkauf Provision zu kassieren, bekamen die Bosse freien Eintritt zu den Spielen von US Palermo. Besonders perfide Methoden hat anscheinend auch die ‚Ndrangheta in der Bergregion Aspromonte: Hier, wo die beiden rivalisierenden Clans des Duisburger Attentats zu Hause sind, wurden Nachwuchsteams systematisch kontrolliert, um unter den Jugendlichen Mafia-Nachwuchs zu rekrutieren. „Viele Fußball-Präsidenten sind Mafiosi“, wird der Priester Don Pino De Masi in Cantones Buch zitiert. „Früher oder später enden die jungen Kicker dann im Dienst der Bosse.“
Bevor ihn abends die Leibwächter in eine Kaserne zum Übernachten bringen, sagt Cantone noch: „Es ist paradox. Eigentlich sollte der Sport ein Gegengift gegen die Mafia sein, aber oft sind es Mafiosi, die über Karrieren entscheiden.“