Die Kontroverse bei der Familiensynode im Vatikan hat eine idyllische Vorgeschichte. Auf halbem Weg zwischen Ulm und Konstanz liegt das malerische Zisterzienserkloster Heiligkreuztal. In den ersten Januartagen des Jahres 1996 versammelten sich hier sieben bedeutende Vertreter der katholischen Kirche. Sie waren unzufrieden mit dem Kurs der Kirche. Eingeladen hatte der damalige Bischof von Rottenburg-Stuttgart, Walter Kasper. Organisiert wurde das Treffen, das anschließend über zehn Jahre hinweg Anfang Januar in der nordöstlichen Schweiz stattfand, von Ivo Fürer. Der damalige Bischof von Sankt Gallen war zugleich Sekretär des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen (CCEE). Fürer wollte ein informelles Forum schaffen, in dem sich gleichgesinnte katholische Vordenker frei über ihre Vorstellung von Kirche austauschen konnten. Sie ahnten zwar noch nichts davon, aber diese Männer bereiteten den Boden für das Pontifikat von Jorge Mario Bergoglio. Und sie nahmen die Grundfragen der aktuellen Bischofssynode vorweg.
Zum ersten Treffen in Heiligkreuztal kam neben Fürer und Kasper auch der damalige Erzbischof von Mailand, Carlo Maria Kardinal Martini. Der streitbare Jesuit wurde zum spirituellen Vater der Tafelrunde, außerdem waren der niederländische Bischof von Helsinki, Paul Verschuren, dabei, Bischof Jean Vilnet aus Lille, der Bischof von Graz-Seckau, Johann Weber, sowie der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Karl Lehmann, Bischof von Mainz. »Wir redeten damals wie Freunde untereinander«, erzählt der heute 85 Jahre alte Fürer. »Jeder konnte frei sagen, was er denkt. Wir hatten kein Protokoll und keine Tagesordnung.«
Die Themen der vertraulichen Gespräche lagen auf der Hand. Papst Johannes Paul II. war stets auf Reisen und überließ die Kirchenführung weitgehend Kardinalstaatssekretär Angelo Sodano sowie dem Präfekten der Glaubenskongregation, Joseph Kardinal Ratzinger. Die autoritäre und zentralistische Kirchenführung wurde aus der Sicht der reformorientierten Prälaten vom Duo Ratzinger-Sodano personifiziert. Was Fürer, Martini, Kasper, Lehmann und die anderen forderten, war eine Gemeinschaft, die den Ortskirchen mehr Freiheit lässt, echte Kollegialität ermöglicht und den als arrogant und maßregelnd empfundenen römischen Zentralismus in die Schranken weist.
Um diesen Dualismus dreht sich auch die Kernfrage der Familiensynode: Sollen die Bischofskonferenzen weiterhin Handlanger und »Filialen« von Rom sein oder brauchen die Diözesen mehr Freiheit, um die weltweit so unterschiedlichen pastoralen Fragen unter den jeweiligen gesellschaftlichen Umständen glaubwürdig beantworten zu können? Bergoglio tendierte schon als Erzbischof von Buenos Aires zu mehr Selbstbestimmung der Ortskirchen und lag mit Sodano über Kreuz. Als Papst hat er nun mit zwei Synoden zu ein und demselben Thema und Umfragen unter den Gläubigen einen Prozess eingeleitet. »Es genügt schon eine kleine, grundsätzliche Öffnung bei der Synode, damit die Bischofskonferenzen die einzelnen Probleme nach ihrer Situation konkretisieren können«, heißt es aus der Umgebung des Papstes.
Beim Aufstieg Jorge Mario Bergoglios auf den Stuhl Petri spielte die katholische Tafelrunde keine unwesentliche Rolle. Das legen auch zwei kürzlich erschienene Publikationen nahe. Der gerade auf Französisch veröffentlichten Biografie des ehemaligen Primas von Belgien, Kardinal Godfried Danneels, zufolge und nach Austen Ivereighs Bergoglio-Porträt »The Great Reformer« hatte die sogenannte Sankt-Gallen-Gruppe wesentliche Bedeutung bei der Vorbereitung der Wahl Bergoglios. Die Kardinäle der Gruppe, die Ivereigh gar als »Team Bergoglio« bezeichnet, bestreiten jede Art von Lobbyismus oder Absprachen zugunsten des Argentiniers. Dass sie aber sowohl im Konklave 2005 sowie bei der Wahl 2013 auf Bergoglio für die Verwirklichung ihrer Agenda setzten, scheint außer Zweifel. Der 82-jährige emeritierte Kurienkardinal Walter Kasper bekennt: »Was Franziskus umzusetzen versucht, entspricht in hohem Maße den Gedanken, die wir damals hatten.«
Die Treffen in der Schweiz hatten den Charakter vertraulicher Klausurtagungen. »Wir waren eine Suchbewegung, die sich über die Kirche und ihre Probleme Gedanken gemacht hat«, erzählt der ehemalige Salzburger Erzbischof Alois Kothgasser, der ab 2002 zur Reformgruppe gehörte. »Es ging dabei vor allem um die Erneuerung der Kirche im Sinn des Zweiten Vatikanischen Konzils«, berichtet Kardinal Lehmann. »Jeder von uns hat erzählt, wie es ihm geht«, sagt der österreichische Altbischof Johann Weber. Man habe sich über die verschiedenen Erfahrungen in Deutschland, Italien, Frankreich, Holland, Belgien und Österreich ausgetauscht, aber keine Kirchenpolitik gemacht. Für Kasper handelte es sich schlicht »um sehr spirituelle und brüderliche Treffen, eine Art geistlichen Urlaub«.
Franziskus nominierte für die Synode neben Walter Kasper auch Kardinal Danneels. Er war seit 1999 Mitglied der Gruppe Sankt Gallen und schwärmt in der autorisierten Biografie vom »Erholungscharakter« der Treffen, der dort praktizierten »Redefreiheit« sowie einer angenehmen »Formlosigkeit«. Bei einer Buchvorstellung vor wenigen Tagen in Belgien sprach Danneels im Zusammenhang mit dem Schweizer Kreis offensichtlich ironisch von einer »Mafiagruppe«, die damals Verdacht im Vatikan geweckt hatte. Im konservativen katholischen Milieu nehmen nicht wenige diesen Kraftausdruck wörtlich.
Danneels ist eine der umstrittensten Persönlichkeiten in der katholischen Kirche. Er hat liberale Vorstellungen im Hinblick auf Homo-Ehe oder Abtreibung. Im Missbrauchsskandal der belgischen Kirche spielte er eine zwiespältige Rolle: 2010 drängte er ein Opfer sexuellen Missbrauchs, die durch einen belgischen Bischof begangenen Taten nicht öffentlich zu machen. Kritiker forderten den Ausschluss Danneels’ beim Konklave 2013. Als Franziskus sich unmittelbar nach seiner Wahl von der Mittelloggia des Petersdoms präsentierte, stand Danneels hingegen als einer der wenigen Kardinäle ganz vorne mit auf dem Balkon.
Erste Kontakte zwischen Bergoglio und der Sankt-Gallen-Gruppe gehen ins Jahr 2001 zurück. Kasper, Lehmann und der Erzbischof von Westminster, Cormac Murphy-O’Connor, wurden im Februar dieses Jahres zusammen mit Bergoglio von Johannes Paul II. zum Kardinal erhoben. Bei einer Kardinalsversammlung im Mai 2001, auf der das Verhältnis von Universalkirche und Ortskirchen diskutiert werden sollte, lernten sich die Teilnehmer besser kennen. Bergoglio knüpfte Kontakte zu Martini. Bei der Bischofssynode im Oktober waren die Sankt Galler beeindruckt vom Geschick und den Ansichten des Erzbischofs von Buenos Aires, der den Synodenbericht anfertigte. »Die Anerkennung beruht auf Gegenseitigkeit«, schreiben die Autoren Jürgen Mettepenningen und Karim Schelkens in ihrer Danneels-Biografie.
Während die Teilnehmer des Gesprächskreises bei ihren Januar-Treffen im bischöflichen Palais von Sankt Gallen verschiedene Fragen diskutierten, von Sexualmoral über Frauenordination, vom Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen bis zur Rolle der Ortskirchen, drängte sich bald die Frage der Nachfolge des schwer kranken Johannes Paul II. auf. Informationen über den schlechten Gesundheitszustand bekamen die Tafelritter, die oft bis spät nachts beim Rotwein parlierten, vom italienischen Kurienkardinal Achille Silvestrini, der seit 2003 den ebenfalls kranken Carlo Maria Martini in Sankt Gallen ersetzte.
Einige Teilnehmer der damaligen Runde versichern heute, dass nicht über konkrete Namen für die Nachfolge Karol Wojtylas beraten wurde. Ivo Fürer, der Organisator der Gruppe, erinnert sich jedoch an Diskussionen über mögliche Kandidaten. »Auch der Name Bergoglio ist dabei gefallen«, sagt Fürer. Die Gruppe habe sich aber nicht festgelegt. Als Wojtyla am 2. April 2005 starb und die Kardinäle bald darauf in der Sixtinischen Kapelle seinen Nachfolger bestimmen sollten, flatterte eine Postkarte aus Rom ins Bischöfliche Palais von Sankt Gallen. Sie war von den Kardinälen aus der Gruppe abgeschickt worden und an Fürer adressiert. Mit einem einzigen Satz: »Wir sind hier im Geist von Sankt Gallen.«
Im Konklave 2005 waren es acht Kardinäle, die zur Gruppe zählten: Martini, Danneels, Kasper, Lehmann, Murphy-O’Connor, Silvestrini, der Lissabonner Patriarch José da Cruz Policarpo sowie der Ukrainer Lubomyr Husar. Dass sie sich nicht den konservativen Favoriten Joseph Ratzinger als Papst wünschten, ist offensichtlich. Ein anonym veröffentlichtes Kardinals-Tagebuch ermöglicht eine glaubwürdige Rekonstruktion des Konklaves. Demnach erhielt Martini neun und Bergoglio zehn Stimmen im ersten Wahlgang. Martini zog aus gesundheitlichen Gründen zurück, der Argentinier erreichte im dritten Wahlgang 40 Stimmen, eine Sperrminorität, die genügt hätte, um Ratzingers Wahl zu verhindern. Um die Spaltung im Kardinalskollegium nicht zu verschlimmern, zog auch Bergoglio seine Kandidatur zurück. Ratzinger wurde Papst.
Noch ein letztes Mal kam die Sankt-Gallen-Gruppe in kleiner Formation im Januar 2006 zusammen. Anschließend löste sie sich auf. Fürer war als Bischof von Sankt Gallen aus Altersgründen zurückgetreten, der Enthusiasmus der anderen Teilnehmer bei dem Versuch, die Kirche in eine andere Richtung zu lenken, hatte nachgelassen. Als Benedikt XVI. im Februar 2013 völlig überraschend zurücktrat, bot sich den Kardinälen unverhofft eine neue Chance.
Wie Austen Ivereigh, der ehemalige Assistent von Kardinal Murphy-O’Connor, in seiner Franziskus-Biografie detailliert beschreibt, ergriffen die »europäischen Reformer«, die bereits 2005 Bergoglio unterstützten, zusammen mit lateinamerikanischen Kardinälen die Initiative. Ivereigh führt aus, wie der nicht wahlberechtigte, aber im Vorkonklave anwesende Murphy-O’Connor Bergoglio in den Plan eingeweiht habe. »Ich verstehe«, soll der Argentinier geantwortet haben. Die Ideen von Sankt Gallen, besonders die Stärkung der Ortskirchen, stehen seither ganz oben auf der Agenda im Vatikan.