Ein Mann fürs Grüne

Christ&Welt/Die ZEIT, 3.12.2015 Carlo Petrini glaubt nicht an Gott, aber er verehrt Franziskus. Der Gründer der Slow-Food-Bewegung sieht in dem Papst den Retter der Welt. Ein Gespräch über Gleichgültigkeit und Revolution.

Slow Food statt Fast Food. Das ist die Devise des Italieners Carlo Petrini (66), Gründer der internationalen Slow-Food-Bewegung mit heute weltweit 150 000 Mitgliedern. Petrini gilt als Vater der Öko-Gastronomie, seine 1989 gegründete Bewegung tritt für nachhaltige Ernährung und Förderung regionaler Produkte ein. Er entstammt einem katholisch-kommunistischen Haushalt im Piemont. Früher arbeitete Petrini als Gastronomiekritiker für die kommunistische Tageszeitung »Il Manifesto«. Er schrieb das Vorwort zur italienischen Ausgabe der Enzyklika »Laudato si«.

Christ und Welt: Sie bezeichnen sich selbst als Agnostiker, haben aber das Vorwort zur Enzyklika »Laudato si« von Papst Franziskus verfasst. Wie kam es dazu?

Carlo Petrini: Ein renommierter katholischer Verlag, die Edizioni Paoline, hat sich kurz vor Veröffentlichung der Enzyklika im Mai 2015 an mich gewandt und mich um ein Vorwort gebeten. Ich hatte 24 Stunden Zeit, um zu schreiben. Ich habe keine Ahnung von Theologie und bin nicht gläubig. Insofern war das schon gewagt. Aber dann haben mich die Worte des Papstes in ihrer Radikalität ergriffen. An einem Tag und in einer Nacht habe ich die Einleitung geschrieben.

C+W: Waren Sie mit dem Papst zuvor in Kontakt?

Petrini: Er hat mich im Oktober 2013 zum ersten Mal angerufen. Ich hatte ihm zuvor ein Buch über unsere Initiative Terra Madre zukommen lassen, unser Netzwerk aus kleinen Bauern, Fischern und Landwirten in 160 Ländern, die sich für Nachhaltigkeit und den Erhalt der Artenvielfalt stark macht. In seinem Brief schreibt er bereits davon, dass die Schöpfung bewahrt werden muss. Der Entwurf seiner Idee einer integralen Ökologie war für mich damals schon sichtbar.

C+W: Wie würden Sie Ihr Verhältnis zur katholischen Kirche beschreiben?

Petrini: Ich bin getauft, wie alle Italiener. Ich komme aus der Provinz und habe mich als Jugendlicher auch am katholischen Leben beteiligt. Mein Vater war Kommunist, meine Mutter Katholikin. Weil meine Mutter sich durchsetzte, ging ich auf eine katholische Schule. 1968 habe ich dann die Arbeiterwelt kennengelernt und den Kommunismus. Diese Mischung aus Katholiken, die die Kommunisten wählen, ist eine ziemlich italienische Angelegenheit.

C+W: Wie funktioniert dieses Amalgam?

Petrini: Für die Sozialisten war Christus der erste Sozialist überhaupt. Er half den Armen und brachte Gerechtigkeit. Ich selbst habe Soziologie studiert und bin dann zwar kein Atheist geworden, aber in die agnostische Richtung gegangen. Ich respektiere jeden Gläubigen, aber kann diesen Glauben eben nicht in allen dogmatischen Details nachvollziehen.

C+W: Glauben Sie nichts oder an etwas anderes?

Petrini: Natürlich glaube ich! Ich glaube an Gerechtigkeit, an Solidarität, an soziale Beziehungen. Als Agnostiker tue ich mich schwerer mit den Fragen im Hinblick auf unsere Existenz. Ich spreche lieber von Spiritualität. Slow Food entstand auch aufgrund einer sehr starken Beziehung zur Mutter Erde. Unsere internationale Bewegung trägt genau diesen Namen, Terra Madre. Die Gemeinschaften, die die Erde bearbeiten, sind am meisten benachteiligt.

C+W: Das hört sich schon sehr nach Papst Franziskus an …

Petrini: Das Außerordentliche an der Enzyklika ist, dass der Papst diese Elemente konkret benennt, das Gleichgewicht zwischen Ökologie, Spiritualität und sozialer Benachteiligung. Das macht seine Worte so stark. Er zeigt mit dem Finger auf unsere Widersprüchlichkeiten im Hinblick auf die Natur.

C+W: Und doch möchte man kaum von einer Öko-Enzyklika sprechen. Die Sozialkritik des Papstes ist unüberhörbar …

Petrini: Ich tue mich schwer, eine Grenze zwischen der sozialen und der spirituellen Sphäre zu ziehen. Wir machen gerade eine Krise durch, eine Krise der Ideen. Aus diesem Loch kommen wir nicht mit den alten Rezepten und Lebensformen heraus, die letztendlich auf der Ausbeutung unserer Natur fußen. Das muss man sich mal vorstellen: Wir laufen auf den Abgrund zu, machen aber so weiter wie bisher!

C+W: Welche Rolle könnte Franziskus in diesem Dilemma einnehmen?

Petrini: Es gibt auf internationaler Ebene keine politische Führung, die echte Orientierung gibt und eine Vision vermittelt. Wir wollen doch alle einen neuen Humanismus, der uns den Weg aus der Sackgasse zeigt. Die Enzyklika gibt diese Orientierung.

C+W: Inwiefern?

Petrini: Wir haben es mit einem historischen Dokument zu tun. Das ist nicht der Öko-Papst, der sich hier äußert. Es geht nicht nur um die Verschwendung von Energien, von Lebensmitteln, um die Wegwerfkultur, den Klimawandel. Es geht um ein viel größeres Problem, mit dem wir es zu tun haben.

C+W: Und zwar?

Petrini: Manche Wissenschaftler sprechen davon, dass wir als Menschheit dabei sind, uns selbst früher oder später auszurotten. Der Papst schreibt selbst, dass man sich als Außenstehender über das selbstmörderische Verhalten der Erdbewohner wundern würde. Es geht um die Bewahrung der Schöpfung, für die Ungläubige wie Gläubige Verantwortung spüren.

C+W: Trauen Sie Franziskus zu, die Welt in diesen wichtigen Fragen zu führen?

Petrini: Ich denke, Franziskus ist eine historisch außerordentlich relevante Figur. Ich glaube, er wird tiefe Spuren hinterlassen. Man muss sich doch nur ansehen, wie er die Versöhnung mit den anderen Kirchen vorantreibt. Wie er voller Achtung zu Nichtgläubigen spricht, in »Laudato si« wendet sich der Papst explizit »an alle Menschen guten Willens«. Niemand soll sich von seinen Worten ausgeschlossen fühlen. Auch politisch gibt er entscheidende Impulse, etwa bei der Annäherung zwischen den USA und Kuba. Kein Wunder, dass er im Vatikan enorme Probleme hat. Er hat eine von Skandalen gebeutelte Kirche geerbt. Aber seine Wirkung geht weit über die katholische Welt hinaus.

C+W: Wie lauten die Vorschläge des Papstes für den Weg aus der Sackgasse?

Petrini: Der Papst fordert uns konkret dazu auf, unseren Lebensstil zu ändern. Und er weist darauf hin, dass man die Politik durch das Verhalten der Einzelnen von ganz unten beeinflussen kann, als Graswurzelbewegung. Das sind radikale Worte für einen Papst, deshalb haben wir es mit einem visionären Dokument zu tun. Stattdessen ist die Rede vom Öko-Papst.

C+W: Warum ärgert Sie das so?

Petrini: Durch diese Floskeln wird die spirituelle Botschaft des Papstes überdeckt. Wir brauchen immer Formeln und Bilder, um uns aufzuregen. Etwa, wenn Franziskus selbst zum Optiker geht oder im vatikanischen Gästehaus wohnt statt im Apostolischen Palast. Wenn wir uns auf diese Nebensächlichkeiten konzentrieren, geht das Wesentliche unter. Ich komme mir manchmal komisch vor, weil ich als Agnostiker überzeugter bin von diesem Papst als manche Katholiken. Die haben das alles offenbar noch nicht richtig verdaut.

C+W: Wie kann sich der Wandel von unten nach oben entwickeln?

Petrini: Der Papst spricht davon, dass das Gewissen aller mobilisiert werden muss. Er will die Zivilgesellschaft aufrütteln. Gute Beispiele der Praxis können die Politik beeinflussen. Franziskus gibt Anleitung, wie das Gewissen in Bewegung gesetzt werden kann, er sprengt damit auch die Grenzen zwischen spiritueller und sozialer Dimension. Und er hat recht: Was ist denn Spiritualität überhaupt, wenn sie nicht in die Praxis oder gar in die Politik eingeht? Überflüssig.

C+W: Zeichnet sich der vom Papst geforderte Prozess schon ab?

Petrini: Viele Basisorganisationen, auch nicht katholischer Art, teilen die Bedenken und Forderungen des Papstes. Jetzt geht es darum, die ideologischen Grenzen zu überwinden. Alle sind dazu aufgefordert, auch die Umweltaktivisten. Greenpeace oder der WWF, auch viele Bauernorganisationen teilen den Inhalt der Enzyklika. Natürlich ist es noch ein weiter Weg. Aber wir haben in Franziskus jetzt eine gemeinsame Bezugsfigur. Vorher gab es so jemanden nicht.

C+W: Wo hat diese Bewegung ihren geografischen Anfang, in Europa?

Petrini: Die Bewegung wird sich in verschiedenen Gegenden auf verschiedene Art und Weise entwickeln. In Gegenden, in denen Armut herrscht, wird die Aufmerksamkeit groß sein, etwa in Lateinamerika. Der Westen hat aber besondere Verantwortung. Insbesondere wir Europäer haben die Natur dermaßen ausgebeutet. Wir können jetzt nicht von einem Afrikaner dasselbe Engagement verlangen.

C+W: Wie meinen Sie das?

Petrini: Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Wir Europäer verzehren 100 Kilogramm Fleisch pro Kopf im Jahr. Ein US-Amerikaner isst sogar 120 Kilo Fleisch im Jahr. Das ist nicht nur ungesund. Vor allem müssen wir überlegen: Wenn alle Menschen so viel Fleisch essen würden, wären drei Planeten nicht genug für den Anbau von Futter. Das ist ein absurdes Ungleichgewicht. Afrikaner verzehren gerade mal fünf Kilo Fleisch im Jahr. Dasselbe gilt für den Ausstoß von CO&sub2;. Wir stoßen extrem viel aus, arme Länder verschmutzen die Atmosphäre viel weniger. In »Laudato si« ist in diesem Zusammenhang von einer Reduzierung des Wachstums die Rede.

C+W: Ist das realistisch? Im politischen Diskurs scheint es doch wenig Wichtigeres zu geben als jeden einzelnen Prozentpunkt des Wachstums.

Petrini: In der Natur gibt es das Paradigma des ewigen Wachstums gar nicht. Wir müssen auf die Bremse steigen, und die Politik muss diese Prozesse steuern. Es ist beinahe schizophren: Wir sprechen seit acht Jahren über Wachstum, aber es findet so gut wie nicht statt. Es ist höchste Zeit, dass wir weniger konsumieren. Unsere Gesellschaft geht dabei nicht zugrunde, im Gegenteil. Wir müssen nur die Perspektive ändern. Weniger wachsen. Der Papst erklärt das mit ganz einfachen Worten. Er sagt: Diese Wirtschaft tötet.

C+W: Das klingt simpel und vereinfachend. Die Wirtschaft schafft auch Arbeitsplätze und generiert Wohlstand.

Petrini: Das stimmt. Aber diese Worte sind ein wichtiger Appell. Wir sind umzingelt von Menschen, die von Wachstum, vom Bruttoinlandsprodukt reden und von nichts anderem. Wenn die Wirtschaft den Primat über alles andere hat, dann bin ich nicht einverstanden. Die Weltwirtschaft ist so mächtig, aber einem humanitären Desaster wie dem unseren steht sie gleichgültig gegenüber? Wie sehr haben wir Afrika ausgebeutet? Wie sehr hat der Westen zur Destabilisierung von Ländern wie Syrien oder dem Irak beigetragen, auch aus wirtschaftlichen Interessen? Und nun wundern wir uns, dass die Menschen von dort in Strömen zu uns kommen? Unser Wirtschaftssystem basiert auf einer Art ökonomischem Kolonialismus.

C+W: Was ist also zu tun?

Petrini: Als Allererstes müssen wir unsere Verschwendung reduzieren. Weniger einkaufen, alles verwerten. Wir produzieren auf der ganzen Welt Nahrung, die für zwölf Milliarden Menschen ausreichen würde. Wir sind aber nur sieben Milliarden. Das bedeutet, dass wir 40 Prozent der Lebensmittel wegwerfen. Und gleichzeitig verhungern Menschen! Jeder Einkauf ist von entscheidender Bedeutung. Mit unserem Einkauf bestimmen wir, was angebaut wird und auf welche Art und Weise. Mir gefällt die Enzyklika auch wegen der konkreten Ratschläge: weniger Wasser verbrauchen, nur so viel kochen, wie man auch isst.

C+W: Erkennen Sie Widerstände gegen das Anliegen des Papstes zur ökologischen Umkehr?

Petrini: Ja, die gibt es. Wenn du eine Idee vernichten willst, bediene dich der Gleichgültigkeit. Die größte Gefahr ist, dass die Botschaft einfach ignoriert wird.

C+W: Wie viel Zeit geben Sie dem humanistischen Umsturz?

Petrini: Es geht um eine Revolution des Geistes. Der Papst spricht in »Laudato si« viel von Freude. Wirkung haben, Protagonist sein. Das ist die Art, wie sich der Papst dem Thema widmet. Er benutzt das Mittel der Empathie. Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass er immer lächelt? Das ist auch ein revolutionäres Element. Der heilige Franziskus von Assisi sagte: »Fangt mit dem Notwendigen an, dann macht das Mögliche. Und plötzlich werdet ihr das Unmögliche erreichen.« Diese simple Methode gilt auch heute.

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