Die EU will die Schleuserkriminalität bekämpfen. Aber wie? Der italienische Kriminologe Andrea Di Nicola hat jahrelang über die Mechanismen und die Hintermänner des Geschäfts mit den Migranten recherchiert.
fluter: Angenommen, ich lebe in einem Dorf in Somalia und will nach Hamburg fliehen. Wie gehe ich vor?
Di Nicola: Du hörst dich bei Bekannten um und bekommst eine Telefonnummer von einem Agenten, der für deine Gegend zuständig ist. Er sagt dir: „Ich bringe dich für 1.000 Dollar in den Niger, dann musst du selbst weitersehen.“ So arbeitest du dich Schritt für Schritt weiter. Irgendwann hast du mit den Männern zu tun, die dich über die Grenze nach Libyen bringen. Dort wirst du in eine der Hütten irgendwo an der Küste gepfercht. Wenn du Pech hast, wirst du Opfer von Gewalt. Die Schlepper wollen die Kontrolle über die Menschen haben. Schließlich geht es irgendwann nachts los, ihr werdet auf einen Kahn gedrängt. Tage später greift euch die italienische Marine auf. Die Italiener können euch nicht zwingen, Fingerabdrücke abzugeben. An Land hörst du dich um, suchst Kontakte zu Schleppern, die dich bis nach Deutschland bringen, im Auto zum Beispiel. Oder du versuchst allein dein Glück.
In Ihrem Buch „Bekenntnisse eines Menschenhändlers“ schreiben Sie: „Es wird Zeit, dass wir uns von der Vorstellung verabschieden, dass es sich bei Schleusern um kleine Gauner handelt, die sich auf die Schnelle ein paar Dollar verdienen wollen.“ Wer steckt hinter den kriminellen Organisationen, die die Flüchtlinge nach Europa schleusen?
Man muss sich das wie in der freien Wirtschaft vorstellen. Da gibt es kleine und große, mittlere und multinationale Unternehmen. So ist das auch im Business der illegalen Einwanderung. Das sind knallharte Geschäftsmänner, die in einem gigantischen Netzwerk zusammenarbeiten und ihre Vertreter selbst in den abgelegensten Gegenden der Welt haben.
Muss man sich das wie eine Art Mafia vorstellen?
Nein. Das sind organisierte Kriminelle, aber keine Mafiosi. Es sind auch sehr kleine Gruppen darunter. Jeder arbeitet auf seinem Reiseabschnitt, ist sozusagen spezialisiert auf einen Teil des Angebots. Es handelt sich um das größte illegale Reisebüro der Welt mit ausgelagerten Unternehmenszweigen.
Wer sind die Hintermänner der Organisationen?
Bei unseren Recherchen haben wir zum Beispiel in Kairo einen Mann kennengelernt, der sich El Douly nennt. Er ist einer von denen, die das große Geschäft machen. Er operiert nur in Ägypten, hat eine ganze Reihe von Agenten im Süden des Landes. El Douly und seine Männer sorgen dafür, dass die Migranten über die Grenze nach Libyen gelangen. Dort werden sie dem nächsten Schlepperring anvertraut, mit dem sie dann über das Mittelmeer kommen.
Wie funktioniert die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Netzwerken?
Sie bekriegen sich untereinander nicht, sondern kooperieren. Da greift ein Rad ins andere. Der kurdische Schleuserkönig Muammer Küçük hat einmal gesagt: „Vor 15 Jahren gab es nur ganz wenige von uns. Es war ein jungfräulicher Markt. Heute sind wir viele, aber es gibt Platz für alle.“
Wie kann man diese Hintermänner am besten beschreiben?
Das sind ausgebuffte Profis. Diejenigen, die die überfüllten Boote übers Mittelmeer steuern, sind kleine Fische. Da kann man Tausende verhaften, und es passiert nichts. Wie bei Drogendealern. Entscheidend sind die Personen, die das Netzwerk zusammenhalten. Sie können sich gut ausdrücken, haben Charisma. Bei unserer Recherche passierte es, dass ich mich dabei ertappte, wie ich dachte: „Der ist ja sympathisch.“ In Wahrheit sind das Verbrecher.
Wie ist die Arbeit in den Netzwerken aufgeteilt?
Es gibt die Agenten oder Emissäre, die Flüchtlinge anwerben und in direktem Kontakt mit den Migranten sind. Dann gibt es beispielsweise die Skipper, die Schiffe übers Meer steuern. Meist kennen sie ihre Chefs gar nicht, sondern werden von Vermittlern instruiert. Dann gibt es diejenigen, die die Flüchtlinge von einer Anlaufstelle in einer Stadt in ein Versteck am Meer transportieren. Andere agieren als Wachleute oder als Kassierer. Jeder hat seinen Anteil am Geschäft.
Wie viel Geld verdienen die Schleuser insgesamt?
Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration machen Schleuser weltweit einen Jahresumsatz von drei bis zehn Milliarden Dollar. Sehr vorsichtig geschätzt verdienen die Schleuser allein im Mittelmeer jährlich ca. 80 Millionen Dollar.
Wie kommt man auf diese Zahl?
1.000 Dollar ist der Standardpreis für die Überfahrt von Libyen nach Italien. Bei 1.000 Menschen kommt ein Schleuser auf eine Million Dollar. Nimmt man 200.000 Bootsflüchtlinge wie für das Jahr 2014 an, dann kommt man auf 200 Millionen Dollar. Setzt man nur 500 Dollar pro Überfahrt an, ergibt das 100 Millionen Dollar Jahresgewinn für die Mittelmeer-Schlepper.
Wie sind die Tarife auf den anderen Flüchtlingsrouten?
Ein Syrer, der über die Türkei nach Europa kommt, zahlt zwischen 6.000 und 7.000 Dollar. In Afrika südlich der Sahara wird in einzelnen Tranchen von 500 bis 1.000 Dollar für jede Etappe, jeden illegalen Grenzübertritt gezahlt. Die gesamte Reise nach Europa kostet einen afrikanischen Flüchtling mindestens 5.000 Dollar.
Was machen die Schleppernetzwerke mit dem Geld?
Manche investieren in andere illegale Geschäfte wie Drogen oder Waffen. El Douly hat Restaurants und Geschäfte. Das Geld wird reinvestiert, etwa zur Bestechung von Grenzbeamten. Bei den Schleppern in Libyen ist es wahrscheinlich, dass das Geld auch den Terrorismus finanziert.
Welche strategische Bedeutung hat das zerfallende Libyen für die Schleuser?
Libyen ist ein neuralgischer Punkt. Aber stellen wir uns vor, wir könnten Libyen aus der Landkarte einfach herausschneiden und das Schlepperproblem dort so beseitigen. Es würde nichts nützen. Die Schleuser überlegen 24 Stunden am Tag, wie sie die Festung Europa stürmen können, und sind rasend schnell. Während wir uns um das Mittelmeer Gedanken machen, kommen haufenweise Menschen über den Balkan nach Europa. 100.000 Menschen im Jahr. Macht man Libyen dicht, dann kommen sie über eine andere Route.
Bedeutet das, dass die Bekämpfung der Schleuser ihnen eigentlich in die Karten spielt?
Es kommt darauf an, wie man vorgeht. Ein ukrainischer Schleuser sagte uns: „Ihr werdet den Flüchtlingsstrom nie abschneiden können. Ich bin wie Moses, der erste Schleuser der Menschheitsgeschichte. Das ist eine unversiegliche Quelle. Wenn ihr Fluchtwege abschneidet, spielt ihr nur unser Spiel. Denn wir werden neue finden. Ihr zieht die Mauern um die Festung Europa höher? Wir erhöhen die Preise.“ Je mehr wir uns abschirmen, desto mehr Tote wird es geben, und desto mehr Flüchtlinge werden die illegale Einreise riskieren.
Was ist also zu tun?
Die Ermittler sind im Vergleich zu den Schleppern sehr langsam. Es ist, als ob sie in einem Ruderboot einem Schnellboot hinterherfahren. Europaweit müssten die Ermittler viel mehr zusammenarbeiten. Wir brauchen einheitliche, strenge Gesetze, Datenbanken. Die EU müsste sich so gut wie die Schleuser koordinieren. Wir brauchen eine neue, europaweit einheitliche Flüchtlingspolitik.
Wissen die Flüchtlinge um die Gefährlichkeit der Flucht und die angespannte soziale Lage in vielen Teilen Europas?
Die meisten wissen Bescheid. Es gibt nur wenige Unbedarfte, die die Realität verdrängen. Ich erinnere mich noch an einen Flüchtling, der sagte: „Mein Schlepper ist ein guter Mann. Er ist die einzige Chance, die ich habe. Zu Hause werde ich umkommen.“ Selbst wenn sie bei Schwarzarbeit für 500 Euro im Monat unter schlimmen Bedingungen Tomaten in Kalabrien pflücken müssen, sind sie einverstanden. Denn das ist 50-mal so viel Verdienst wie zu Hause. Mit dem Geld können sie ein ganzes Dorf ernähren.
Welche Folgen haben die EU-Dublin-Verordnungen, nach denen die Flüchtlinge nur in dem Land Asyl beantragen können, in dem sie ankommen? Also meist Italien, Griechenland oder Bulgarien.
Die Dublin-Verordnungen bedeuten zusätzlichen Gewinn für die Schleuser. Denn auch die Flüchtlinge, die Recht auf Asyl haben, zahlen Tausende von Dollars, um dort hinzukommen, wo sie ihren Asylantrag stellen können. Das hat mit unserem Selbstverständnis von Europa als Wiege der Menschenrechte nichts mehr zu tun. Ein sizilianischer Bischof sagte: „Holen wir die Asylbewerber doch lieber vor Ort mit Flugzeugen ab, das ist letztendlich sogar günstiger.“
Was denken Sie über den Vorschlag, die Boote der Schlepper zu bombardieren?
Das ist kurzsichtig. Wenn man garantieren könnte, wirklich alle für die Flucht verwendeten Kähne zu vernichten, okay. Aber das ist unmöglich, Schiffe werden neu gebaut, und die Schlepper sind sehr agil darin, sich neu zu organisieren. Ich habe das Gefühl, es handelt sich um medienwirksamen Aktionismus.
Nach Ihrer Beschreibung klingt es so, als habe Europa kaum Chancen gegen die Schlepperorganisationen. Müssten die Grenzen geöffnet werden, um ihnen wirklich beizukommen?
Ich glaube, Grenzen entsprechen einem menschlichen Bedürfnis. Sich abzugrenzen fördert auch die eigene Kultur und schützt das, was sich innerhalb dieser Grenzen und Mauern befindet. Wenn man die Grenzkontrollen abschafft, dann beseitigt man zwar ein Problem, nämlich die Schlepperkriminalität. Aber man schafft auch ein neues. Man muss ein Gleichgewicht finden zwischen unbegrenzter Öffnung und totaler Abschottung.
Worin besteht der Kernfehler, den Europa in der Flüchtlingspolitik begeht?
Die Schlepper kooperieren und sind schnell. Die 28 Länder der EU sind langsam, misstrauen sich und sind in nationalen Egoismen verhaftet. Außerdem fehlt es an einer politischen Vision. Der Blick darf sich nicht auf die nächste Wahl richten, sondern wirklich auf die Lösung des Problems.
Andrea Di Nicola, 41, ist Professor für Kriminologie an der Universität Trient mit den Forschungsschwerpunkten organisierte Kriminalität, Menschenhandel und Immigration. Nach jahrelangen Recherchen veröffentlichte er 2015 zusammen mit dem Journalisten Giampaolo Musumeci das Buch „Bekenntnisse eines Menschenhändlers – Das Milliardengeschäft mit den Flüchtlingen“ (Verlag Antje Kunstmann, München, 2015, 206 Seiten, 18,95 Euro).