Vielleicht sollte man sich die Worte des ukrainischen Schleusers noch einmal vergegenwärtigen, den der Kriminologe Andrea Di Nicola aus Trient vor einiger Zeit in einem italienischen Gefängnis befragte. Laut Di Nicola sagte der Schleuser: „Wenn ihr Fluchtwege abschneidet, werden wir neue finden. Ihr zieht die Mauern um die Festung Europa höher? Wir erhöhen die Preise.“ Jetzt wirkt es so, als habe auch die italienische Regierung die zynischen Worte des Schleusers mit etwas Verspätung vernommen. Nach den aktuellen Entwicklungen auf dem Balkan fürchtet Italien eine neue Flüchtlingswelle.
Auslöser sind die Grenzschließungen von Österreich bis Mazedonien und die sich in Nord-Griechenland stauenden Flüchtlingstrecks. Ein Blick auf die Landkarte genügt, um das drohende Szenario zu verstehen: Weil sie auf dem Weg von Griechenland nach Norden blockiert werden, suchen die Flüchtlinge neue Routen in die EU, von denen die meisten über Italien führen. Auch Italien, das im vergangenen Jahr etwa 100 000 Flüchtlinge in Hilfseinrichtungen aufnahm, ist vom Meer umgeben und kann keine Zäune an den Küsten errichten.
„Wir bereiten einen vorläufigen Plan vor und hoffen, dass er vorläufig bleibt“, sagte der italienische Innenminister Angelino Alfano vor Tagen bei einem Besuch in der süditalienischen Region Apulien. Wie es heißt, gibt es rege informelle Kontakte zwischen Italien, Albanien und Montenegro. Dutzende Soldaten sollen nach Apulien verlegt werden, der fünfte italienische Hotspot im apulischen Taranto steht angeblich kurz vor der Öffnung. Alfano wies schon vor Wochen die Sicherheitschefs in den italienischen Städten an, 50 000 zusätzliche Aufnahmeplätze einzurichten.
Ein Grund für den Alarm: Gerade einmal 45 Seemeilen trennen den Absatz des italienischen Stiefels vom albanischen Festland, die Überfahrt ist in einer Nacht zu schaffen. Laut italienischen Zeitungsberichten haben italienische Geheimdienste Erkenntnisse, dass Schlepper die in Griechenland festsitzenden Flüchtlinge über Albanien und dann mit Booten über den Kanal von Otranto nach Italien befördern könnten.
„Wir haben noch keine konkreten Hinweise darauf, dass diese Reisen wieder aufgenommen wurden, aber einigen Verdacht, dass sie in diesen Tagen organisiert werden“, sagte der Chef der italienischen Staatsanwaltschaft in Lecce, Cataldo Motta. In Italien werden Erinnerungen an die 1990er Jahre wach, als Zehntausende Albaner auf überladenen Frachtschiffen über die Adria nach Apulien flohen. Diesmal rechnen die Sicherheitsbehörden mit anderen Methoden. An der Küste zwischen Durres und Dhermi beschlagnahmte die albanische Polizei in den vergangenen Tagen mindestens zwölf Schlauchboote, die bislang für Drogenschmuggel genutzt worden seien. In Zukunft könnten Flüchtlinge auf den nicht einmal zehn Meter langen und kaum kontrollierbaren Booten transportiert werden.
Wie auf diese Weise Zehntausende das italienische Festland erreichen sollen, ist nicht klar. Doch die Möglichkeiten der Schlepper sind zahlreich. Italiens Sicherheitsbehörden weisen auf mehrere Alternativrouten hin. So erreichte der im türkischen Mersin gestartete Frachter Blu Sky mit 800 Migranten im Dezember 2014 führungslos die Küste Apuliens. Denkbar seien auch Abfahrten in Nordwest-Griechenland und eine Fahrt über das Ionische Meer nach Kalabrien.
Mit großer Wahrscheinlichkeit nehmen wie jedes Jahr im Frühling auch die Überfahrten von Libyen wieder zu, 2015 gab es hier insgesamt einen Rückgang. Entscheiden sich die syrischen Flüchtlinge angesichts des blockierten Balkans für die südliche Fluchtroute, wäre auch der gegenwärtige Hoffnungsträger der EU, die Türkei, machtlos. Das Horrorszenario für Italien wäre komplett, wenn Österreich dann auch den teilweise kontrollierten Grenzübergang am Brenner endgültig dicht macht. Italien, so fürchtet man in Rom, könnte dann in eine ähnliche verzweifelte Lage wie heute Griechenland geraten.